Donnerstag, 14. April 2011

Essenskontrolle


Vor kurzem las ich eine Nachrichtenüberschrift, die mich stutzig machte. Einige Schulen in den USA beginnen tatsächlich die Jausen und das Mittagessen der Schüler zu kontrollieren bzw. massiv Einfluss darauf zu nehmen. Teilweise geht das so weit, dass entweder bestimmte Speisen (etwa Nahrungsmittel mit hohem Zuckergehalt) nicht mehr mitgebracht werden dürfe oder die Schule das Mitbringen des Essens von daheim generell untersagt und dieses nur mehr in der Schulcafeteria gekauft werden darf.
Grundsätzlich könnte man jetzt eine Debatte darüber führen, dass die US-Amerikaner wohl zu den im Schnitt fettesten Menschen der Welt gehören und Lebensstil-bedingte Erkrankungen wie Arteriosklerose, Bluthockdruck und ähnliches über das Leben hinweg extreme Kosten für das Gesundheitssystem bedeuten.  Darüber brauchen wir nicht zu diskutieren und dass sich der Staat Gedanken zu diesem Thema machen soll und darf ist meiner Meinung nach unbestritten.
Das Problem beginnt an dem Punkt, an dem tatsächlich massiv in die Persönlichkeitsrechte von Menschen eingegriffen wird und zwar mit Mitteln, die einen etwas unangenehmen Nachgeschmack hinterlassen. Es stellt sich die Frage welche Motive wirklich dahinter stecken. In Zeiten, in denen viele Schulen mit knappen Budgets zu kämpfen haben, ist jeder Dollar eine willkommene Sache und da die Cafeterias in den USA (und auch hierzulande) selten gratis zur Verfügung stehen, bedeutet natürlich eine solche Maßnahme nicht zu unterschätzende Mehreinnahmen. Wird hier vielleicht die Gesundheit der Schüler nur vorgeschoben um schnell eine neue Einnahmequelle aufzutun? Der Verdacht wird auch durch die Tatsache geschürt, dass die Cafeteriamenüs nicht immer die gesündesten Speisen beinhalten. Fettiges Essen ist nun mal in der Anschaffung meist billiger als hochwertige, biologische Zutaten. Das klassische Hotdogbrötchen ist ja auch so ein denaturiertes Weißbrot welches der Körper mit Freunden in Zucker umwandelt.  Abgesehen davon – wie heuchlerisch ist es, in Zeiten, in denen multinationale Konzerne wie Pepsi und Coca-Cola Schulen offiziell sponsern dürfen, den Schülern plötzlich aus „gesundheitsgründen“ das mitgebrachte Essen zu verbieten?  Ich denke alleine die Entfernung entsprechender Getränkeautomaten aus öffentlichen Schulen hätte einen wesentlich positiveren Effekt.
Grundsätzlich halte ich Verbote, Gebote und sonstige restriktive Maßnahmen für den falschen Weg. Die Aussprache eines solchen ist häufig auch Zeichen einer gewissen Hilflosigkeit gegenüber einer Entwicklung. Statt tatsächlich das Problem anzusprechen, „gewissensbildende Maßnahmen“ zu setzen, die nachhaltig wären, wird schnell eine Entscheidung „für“ die Menschen getroffen. Gerade ist das Thema „Essen“ heikel, da es immer als fest integrierter Teil von Kultur daher kommt. Von Gemeinschaft. Essen und die Rituale drum herum verbinden Menschen. Ein solcher Eingriff wird mit Sicherheit als massive Kontrolle durch den großen Bruder erlebt. Welche Eltern wollen sich schon von der Schule vorschreiben lassen, was ihr Kind essen darf und was nicht?  Also ich persönlich fände das wenig witzig. 

Fazit: Ich bin sehr wohl für eine Bewusstseinsbildung, was eine gesunde und ausgewogene Ernährung betrifft. Übergewicht mit all den Folgen, wie Herz-Kreislauferkrankungen, ist sowohl für die Betroffenen selbst, als auch für das Gesundheitssystem, extrem belastend. Aber wenn, dann aus den richtigen Gründen und auf die richtige Art. Von oben herunter, durch Institution zu beschließen, was unsere Kinder zu sich nehmen dürfen und was nicht, schränkt das Persönlichkeitsrecht ein, nimmt dem Bürger in gewisser Weise seine Mündigkeit und führt im schlimmsten Fall zu einer Art Gegenbewegung die skurrile Früchte tragen kann (zum Beispiel Restaurants, die absichtlich nur die fettigsten Speisen servieren und damit werben "Hier werden ihre Arterien so richtig verstopft"). Gesetze, Bestimmungen und Regelungen von oben können und dürfen die Selbstbestimmtheit nicht ersetzen. Deshalb werden nur solche Maßnahmen nachhaltig greifen, die tiefer gehen als ein simples „Du darfst nicht“. Bewusstseinsbildung ist die Devise. 
Manchmal habe ich diesen Albtraum der perfekt reglementierten Welt, in der niemand mehr entscheiden muss, was gut und schlecht für ihn ist – das absolute, vorbestimtme Glück für jeden. Nur eines hat man nicht mehr in dieser Welt: Eigenverantwortung. Moment. War das nicht „A Brave New World“? Die erlernte Hilflosigkeit, würde der Psychologe sagen. Hat der Menschn nur mehr einen Weg, nicht mehr die Entscheidungsfreihteit zwischen dem was gut tut und dem was nicht gut tut, wird das Leben an sich ab einem gewissen Punkt bedeutungslos. Und man wird nichts mehr lernen. 

Montag, 11. April 2011

Nachtfahrt


In meinem Leben habe ich schon viele Stunden in Bussen verbracht. Manche Reisen kurz, gerade mal eine halbe Stunde oder weniger. Die mochte ich eigentlich nicht so gerne. Umso kürzer die Fahrt umso mehr steht das Ziel im Mittelpunkt. Das Ziel ist aber auch ein Ende mit Enden habe ich es nicht so. Andere Fahrten waren lang, mehr als zwölf Stunden. Die hatten dann immer etwas Besonderes an sich. Vielleicht liegt es an diesem Gefühl  die Kontrolle abzugeben, sich einfach fallen lassen zu können und trotzdem nicht an einem Punkt zu bleiben. Diese Gewissheit, dass, egal was ich jetzt tue, die Reise weitergeht, ich träumen kann. Und dabei träume ich selten vom Ziel. Tatsächlich ist es so, dass die Ankunft für mich der schlimmste Teil der Reise ist. Wenn ich hinaus muss, Entscheidungen treffen, hinein in die Hektik einer neuen Situation die ich noch gar nicht so richtig abschätzen kann. Aus demselben Grund bin ich auch sehr gerne Beifahrer im Auto. Dann möchte ich am liebsten für immer unterwegs sein, die Straße unter mir, ohne Ziel, einfach nur in Bewegung. Klingt das seltsam? Vielleicht. Kann sein, dass mit mir etwas nicht stimmt, eine Art Fluchttrieb in mir, den die Fahrt nährt. Darüber nachzudenken macht mich traurig. 
Dennoch, Busreisen sind mir die liebsten. Nicht unbedingt zu Beginn. Alle sitzen auf ihren Plätzen, sind laut, reden, essen, spaßen miteinander. Das Gewirr von Stimmen und hektische Aktivität um mich, während ich einfach nur dasitze und meinen Gedanken nachhänge. Wortfetzen dringen an mein Ohr, zerren unsanft und rüpelhaft an meiner Aufmerksamkeit. Ich spüre dann wie mein Körper, mein Geist, meine Seeler immer kleiner werden, zusammensinken in dem Polstersessel bis nur mehr ein kleiner Ball übrig bleibt. Vergessen und übersehen. Meist geht das den ganzen Tag so, bei langen Busreisen. Woher nehmen die Menschen nur diese Energie? Könnte ich das auch, wenn ich nur wollte? Wenn man mich einbeziehen würde? Wenn ich mich einbeziehen ließe? 
Wenn sich die Sonne aber dem Horizont näher, dann kommt meine Stunde. Erschöpfte Lichtfinger greifen nach mir durch die Fenster, versuchen mich zu blenden und ich weiß, dass jetzt die Ruhe kommen wird. Sie senkt sich schleichend über den Bus. Einzelne Stimmen versagen, klinken sich aus dem Strom der endlosen Konversationen aus. Manche halten länger durch als andere. Tuscheln noch wenn sich längst Dunkelheit über die Welt gelegt hat. So stelle ich mir auch das Ende aller Dinge vor. Langsam gehen die Lichter aus, eines nach dem anderen und dann ersterben die Stimmen, bis nur mehr die unsichtbaren Funkwellen verrückten Radioprediger über einer stummen Wüste schweben. Meistens macht der Fahrer zu Beginn noch die Lichter in der Kabine an aber irgendwann werden auch diese Gedimmt und heilendes Zwielicht fällt über die erschöpften Gesichter der Fahrgäste. Manche schlafen schon. Mit offenen Mündern und hängenden Backen. Eingerollt um sich selbst oder steif und fest in den Sitz gepresst. Manche Grimasse wird auf Film festgehalten. Ich frage mich weshalb. Sehen wir nicht alle manchmal komisch aus wenn wir schlafen? Auch die letzten setzen über in das Land der Träume. Trinken den Sud des Vergessens. Dem Fährmann wurde wohl der Obolus entrichtet. Wer nicht zahlt kommt auch nicht zurück. Das ist meine Zeit. Langsam kann ich mich entspannen. Ich sein. Frei. Mein Körper, mein Geist und meine Seele wachsen an. Aus der kleinen, verängstigten Kugel wird ein Mensch. Groß wie ein Berg, stolz wie eine Statue. Ich sehe mich um und alles ist friedlich. Dunkelheit strömt durch die Fenster wie warmes Wasser und der Fahrer lauscht den leisen Melodien aus dem Radio. Er summt manche davon mit. Irgendwie mag ich das und muss selbst etwas lächeln. Mit verstohlener, kaum unterdrückter Freude ziehe ich Papier und Bleistift aus dem Rucksack, den ich die ganze Fahrt über eng an mich gedrückt hielt. Dies ist meine Stunde des Wolfes, jene Zeit zwischen Mitternacht und Morgenröte in der es nur mich gibt. Und meine Gedanken. Ich reise durch Raum und Zeit. Lausche auf die leisen Geräusche des Lebens um mich. Dann kann ich Teil davon sein. Teil der Bruderschaft des Menschlichen und ich habe den Anflug eines Schimmers von Verstehen. Rätsel entfalten sich vor mir wie Origami-Figuren. Die Form, die ich nicht verstand, wird wieder zu einem weißen Blatt Papier. Die Melodien in meinem Kopf werden zu Texten und die Texte zu Geschichten. Es fällt einfach alles richtig, kommt zusammen. So als würde ich Mikadostäbchen nehmen, fallenlassen und darin eine Botschaft erkennen. Meine besten Ideen sind so entstanden. Mitten in der Nacht. Auf einer Fahrt ins Ungewisse. Meisten sind das düstere Geschichten, klar. Aber wie Stephen King schon sagte – wieso nimmt man an, dass der Schreiber eine Wahl hätte? Und die Schlafenden um mich herum haben nicht die geringste Ahnung, welche zentrale Rolle sie in diesem Schauspiel inne hatten. Sie werden es auch nie erfahren. Wen sollte das schon interessieren? Über mir ziehen die nächtlichen Wolken hinweg, vielleicht kann ich sie durchs Fenster beobachten. Jede davon weiß etwas zu berichten und wenn man sie lange genug beobachtet spielen sie für dich. Jemand hat mal zu mir gesagt, dass es deshalb so berauschend ist die Nacht wachen Geistes zu erleben, weil es ein gewisses Gefühl der Überlegenheit bietet. Das glaube ich nicht.  Es geht nicht um Überlegenheit oder Macht. Vielmehr ist es das Gefühl Teil von etwas zu sein, von etwas Großem. Normalweise überdeckt der Lärm der Welt, die Geräusche des Lebens, dieses zarte Gefühl. Wenn man die Augen in der Dunkelheit offen hält, kann man alle möglichen Dinge erleben. Dieses Gefühl, dass es da etwas gibt, eine Energie die uns alle zusammenhält, verbindet und diese riesige Aufführung, die wir Leben nennen, ermöglicht. Der Vorhang hinter Bühne lüftet sich ein winzig kleines Stück und man erhascht einen Blick darauf wie es sein könnte. Die Masken werden abgenommen. Und für eine Mikrosekunde wird dieses Leben wirklich schön. 
Natürlich geht das auch wieder vorbei. Wenn die Nacht ihrem Ende entgegeneilt beginnen sie wieder zu erwachen. Alle die Menschen um mich herum. Sie strecken sich. Zeigen sich gegenseitig die Bilder der Schlafenden, freuen sich an den Peinlichkeiten offener Münder und Speichelfäden an Kinnen. Es wird wieder laut um mich herum. Papier und Bleistift flüchten sich in den Rucksack wie nachtaktive Tiere in ihre Höhlen. Die Worte werden bleiben, egal was passiert. Deshalb liebe ich Busfahrten. Wegen der Nacht und der Freiheit. Wegen dem Gefühl unterwegs zu sein und niemals irgendwo ankommen zu müssen. Wäre es möglich ewig zu fahren? Oder würde man irgendwas aus der Stunde des Wolfes gestoßen und erkennt, dass man vor lauter Reisen nie gelebt hat? Wer auch immer geschrieben hat, dass man vor den Problemen nicht davonlaufen kann, hat offensichtlich nie als einzige wache Personen eine Nachtfahrt im Bus erlebt.

Donnerstag, 7. April 2011

Tyler Ward: Ein empfehlenswerter YouTube Künstler

YouTube ist ja so eine Zeitfalle auf die man mal schnell geht um „nur ein Lied zu hören“ und vier Stunden später feststellt, dass man noch nichts anderes fertigbekommen hat. Insofern ist es wirkliche eine verteufelte Sache. Aber manchmal, wenn man abseits der Mainstream Wege geht, entdeckt man richtige kleine Perlen. Bisher unbekannte Künstler, die ihre Sachen online stellen und hoffen, dass man sie auf diese Art bemerkt. Ein bisschen kann man es mit den Kellerclubs von früher vergleichen, in denen unbekannte Bands auftraten und per Zufall von jemandem entdeckt wurden. Die Betonung liegt hier auf „Zufall“.
Vor kurzem stolperte ich auf einer meiner Reisen in die tiefen dieses verrauchten (oder verruchten) Clubs auf einen Musiker, den ich bis dato nicht kannte. Tyler Ward heißt der und ist zu finden unter:


Der junge Mann macht Musik in vielen verschiedenen Stilen und arbeitet dabei mit anderen bisher weniger bekannten Künstlern zusammen. Aufmerksam geworden auf dieses Talent bin ich durch ein Taylor Swift Cover, welches er zusammen mit Julia Sheer aufgenommen hat. Ich weiß, Taylor Swift …. aber die Coverversion von „Sparks Fly“ ist richtig gut. Julia Sheer hat eine tolle Stimme, Tyler spielt Gitarre und das war es auch schon – simpel, akustisch, großartig:


Ein zweites, gemeinsam aufgenommenes Lied ist „When I look at you“ von Miley Cyrus. Ok, bevor ihr jetzt wegrennt und mich öffentlich verleugnet – auch diese Coverversion ist sehr gelungen, akustisch aufgenommen und dem Original deutlich überlegen (also meiner Meinung nach). Besonders süß: Der kurze Dialog zwischen Julia und Tyler zu Beginn – da stimmt die Chemie einfach. Hier der Beweis:


Ein letztes Cover-Video mit den beiden möchte ich euch noch ans Herz legen: „Grenade“ von Bruno Mars. Tja, was soll ich sagen? Ich mag es wenn die beiden akustisch werden:


Und hier ein ganz besonderer Anspieltipp – diesmal zwar von Julia Sheers der YouTube Seite  und von ihr vorgetragen, aber ein Originalsong, den sie mit Tyler geschrieben hat: „You will never be“. Also ich mag das Lied sehr. Hier der Link:


 Leider gibt es wenig neuere Videos mit Julia und Tyler zusammen, meiner Meinung nach ist die Chemie zwischen den beiden einfach perfekt, aber ich denke mal aufstrebende, junge Künstler müssen mit vielen anderen zusammenarbeiten um ihre Nische zu finden.
Interessant fand ich auch die Coverversion von „We are the world“, ein Gemeinschaftprojekt von Tyler und einigen anderen YouTube Künstlern (ja, Julia ist dabei). Absolut empfehlenswert, auch wenn das Cover vielleicht eine Spur zu perfekt ist – dieser gewisse eigene Touch der jungen Musiker fehlt. Hier kann man das Video bestaunen:


Und jetzt kommt der Hammer (positiv oder negativ, wie man es sehen will – aber auf jeden Fall bemerkenswert). Offensichtlich blicken Tyler und seine Crew auch über den großen Teich, denn sie bieten wirklich und wahrhaftig eine Coverversion von Lenas Songcontest-Hit „Satellite“ und das, wo der Kreis jener, die das Lied in den USA kennen, ungefähr 50 Personen umfassen dürfte – und auch nur dann, wenn Stefan Raab in Los Angeles Urlaub macht. Wer das jetzt nicht glaubt – hier ist der Link:


 Natürlich hat Tyler mehr zu bieten als eine Reihe von Coverversionen bekannter Hits (auch wenn die wirklich sehr gut gelungen sein). Auf seinem Channel findet man eine Reihe von Originalkompositionen die teils sehr hörenswert sind. Wie bei jedem Künstler gibt es mal mehr und mal weniger gute Ergebnisse aber generell empfehlenswert!

Besucht einfach Tyler Ward:
Julia Sheer:
… oder einen der anderen Künstler aus dem Umfeld der beiden. Ich bin mir sicher da ist was dabei was euch auch gefällt. Egal ob Cover oder Original.

Sonntag, 3. April 2011

Warmes Eis oder Die Hand

Dieser Text gehört in die Kategorie 10 in der nach oben offenen Richterskala der deprimierenden Literatur. Wer das nicht mag sollte jetzt lieber im Brower auf Lesezeichen/Favoriten klicken und was anderes anschauen.

Eins war es ein stolzes Vanilleeis im hellsten Gelb das du dir vorstellen konntest. Wenn du es jetzt ansiehst weißt du, dass es nur noch eine gelbe Masse ist.
Natürlich, von außen ist es immer noch geformt wie eine Kugel, perfekt, aber im Inneren besteht es nur noch aus hohlen Luftblasen, dünnwandig, und bei der kleinsten Berührung würden sie zerplatzen, einfach zu Nichts vergehen.
Du starrst darauf. Eine Sekunde, fünf Sekunden, eine Minute, eine Stunde. Irgendwann verliest du das Gefühl für die Zeit und es ist dir auch egal. Kein Anfang, kein Ende.
Und das Eis hält sein Schweigen.
Deine Augen müssten mittlerweile Löcher in die Luft gestarrt haben, dunkle Augen die nichts sehen aber doch nicht tot sind. Alleine und doch mit der Macht Welten zu erschaffen, voller Wunder und immer zum Sterben verurteilt.
Da beginnst du dich zu fragen wie es sein kann, dass sie überall um dich herum sind, Menschen. Witze, Lachen, all das umgibt dich wie die Luft die du atmest.
Die Kälte hüllt dich ein wie ein enger Mantel, ein Stützkorsett und du fragst dich, ob es vielleicht diese Kälte ist die das Eis bräuchte um Unsterblichkeit zu erlangen. Du lachst und erntest dafür seltsame Blicke. Man lacht nicht einfach so, dummes Kind. Aber der Gedanke ist zu komisch. Woran das Eis zu Grunde geht wäre genau das was dich ins Leben zurückbringen würde: Wärme.
Sie fragen wie du dich fühlst. Die Antwort darauf ist immer dieselbe. Was würde es auch bringen etwas anderes zu sagen?
Du ignorierst die Welt und die erwidert die Höflichkeit nur zu gerne.
Und dann ist da diese Hand. Du kriegst sie nicht mehr aus deinem Gedächtnis, alle Gedanken beginnen darum zu Kreisen wie Fliegen um einen ranzigen Kadaver. Du kannst sie fühlen obwohl es nicht deine ist und sie dich auch noch nie berührt hat. Aber die Hand berührt SIE. Ganz zaghaft, unschuldig, keiner hat es bemerkt. Und doch war es unübersehbar. Wissen die überhaupt was die Hand bei dir anrichtet? Was dieses Spiel dich kostet?
Jemand flüstert dir ins Ohr aber die Worte ergeben keinen Sinn (es klang wie eine Maus). Gefangen im Schleppnetz der Angst wie ein Delfin. Die Luft zum Atmen, es lässt dich nicht mehr dafür auftauchen.
Deine Augen beginnen zu tränen. Wenn jemand fragt ist es der Rauch. Kälte hat dich von allen Seiten umzingelt. Kribbelnd schleicht sie deine Fingerspitzen entlang, bitter klettert sie deinen Hals hoch.
Sie gehen, das Ende. Du wartest auf den fallenden Vorgang aber er kommt nicht. Wenigstens ist die Hand jetzt weg. Ein Freund sagt ein paar Worte aber du bist zu müde ihm noch Aufmerksamkeit zu schenken. Langsam stehst du auf, ziehst den Mantel enger um deinen Körper und denkst an diese seltsame Welt mit ihrem zerfallenden Vanilleeis und den Händen die berühren – aber niemals dich.
Das Eis war noch da, tot und der Mond  im Begriff aufzugehen. Angeekelt von all den Lügen, dem Schein und den Metaphern nimmst du den klebrigen Löffel vom Tellerrand und stichst ihn in das Eis. Es zerfällt sofort, verliert seine Form, bricht ein. Nur noch ein gelber, zerfließender Fleck auf weißem Porzellan. Zumindest eine Illusion weniger.

Feuermotten

Geh‘ mit dir über die alte Brücke am See, jene die den kleinen, ausgebaggerten Hafen für die Fischer überquert. Kannst du das Holz sehen? Es ist alt und wirkt morsch, aber im Inneren ist es fest wie Stahl, würde hundert Menschen aushalten, auch wenn schon lange nicht mehr so viele zur gleichen Zeit hierher kommen. Das Wasser riecht an Tagen wie heute irgendwie seltsam, nach Seetang und Wind, Regen und Sturm, aber nicht unangenehm. Vertraut, so als würde sich die Flüssigkeit  in meinen Zellen an seine Herkunft erinnern, vielleicht sogar mit Sehnsucht. Wenn du tief einatmest kannst du fühlen wie sich dein Verstand ausbreitet, für einen Moment über dich selbst hinauswächst. Ein bisschen ein Schwindelgefühl aber gut.
Da hinten führt ein Weg am wild verwachsenen Ufer entlang. Im Schilf raschelt das Leben, davor musst du dich wirklich nicht fürchten, alles was dich erlegen könnte würdest du nie kommen hören. Keine Angst, das war ein Scherz. Links und rechts salutieren uns die Bäume, hohe, edle Geschöpfe die das Leben in langen Jahren studieren, den Wanderern lauschen und die Worte der Liebenden enträtseln. Wenn sie könnten würde sie Geschichten erzählen. Diese Allee ist voller Erinnerungen.
Der Wind ist normal, er zieht jede Nacht vom See heran um mit uns zu sprechen. Verspielt flüstert er dir ins Ohr. Wehr dich nicht dagegen, hör ihm lieber zu. Er sagt uns, dass wir auf dem richtigen Wege, dass das Ziel nicht mehr weit und die Mühen die Anstrengungen mehr als wert sind. Du solltest wirklich einmal kurz vor Morgengrauen hier sein, manchmal  kann man die Stimmen der ertrunkenen Fischer im Wind hören. Sie erzählen dir dann von den Orten an denen sie gewesen sind und an die sie noch gehen werden. Auch davor brauchst du dich nicht zu fürchten, die Toten sehen weit aber ihre Körper haben sie längst zurückgelassen.
Wir sind beinahe da, kannst du es sehen? Ich wollte dir den alten Mann dort drüber auf der Wiese bei dem knorrigen Baum zeigen. Ist schon ein komischer Baum, sein Stamm von oben her bis eine Menschengröße über den Boden gespalten, als hätte der Blitz ihn vor langer Zeit verwundet aber er zu stur um daran zu sterben. Jetzt ist es als wüchsen zwei Baume aus dem einen Stamm. Schau ihn dir ruhig genauer an. Die Äste hängen weit über die Wiese hinaus, wie die Arme eines Kraken der die Welt verschlingen will. Nein, der Vergleich stimmt nicht. Wie die Arme einer Mutter die das Kind beschützen wollen.
Aber zurück zu dem Mann den ich dir zeigen wollte. Da steht er, mit der alten, ausgefransten Jacke in undefinierbarer Farbe. Ihm muss wohl kalt sein, denn er trägt immer eine Wollmütze, tief über die Stirn heruntergezogen. Lass dich nicht von dem Feuer vor ihm verunsichern. Ja, da brennt Laub, ich kann es auch riechen. Der Mann hält es am Leben, mit einem alten, rostigen Laubrechen schiebt er immerzu neue Blätter in die Glut. Wir könnten einen ganzen Tag hier stehen und er täte doch nie etwas anderes.
Das war nett von dir aber ihn zu grüßen hat keinen Sinn, er antwortet nie. Halte den Alten deswegen nicht für unfreundlich, wahrscheinlich sieht er uns gar nicht. Wir sind nur Besucher in seiner Welt und dabei nicht einmal geladen.
Schau in die Flammen. Sind sie nicht wunderschön? So Rot als bestünden sie aus lebendigem, tanzendem Blut.  Immer wieder formen sie neue Figuren, im Tanz miteinander, eng umschlungen nur um sich doch wieder zu lösen, aufzulösen. Keine zwei Augenblicke ist diese tosende Gewalt sich gleich. Komm näher, etwas tiefer drinnen im Flammenmeer siehst du die Glut, die Quelle des Schauspiels, sie hält der alte Mann am kochen, sie ist seine Lebensaufgabe. Ich sehe es Dir an den Augen an, du hast es bemerkt. Die Glut steht nicht still, sie pulsiert, vibriert, wie Adern oder ein Herz, man kann es beinahe klopfen hören. Kleine Funken steigen aus dem Rot empor, sie leuchten hell, heller als Sterne. Es müssen tausende sein, so viele, dass es kaum möglich ist einem einzigen zu folgen. Nein, streck‘ deine Hand nicht aus. Die Funken sind glühend heiß, so schön sie anzuschauen sind, so sehr würden sie dich bei nur einer einzigen Berührung schmerzen.
Gehen wir doch ein paar Schritte zurück, dann kannst du besser sehen. Das Feuer brennt jetzt lichterloh. Ob sich der Mann wohl für uns besondere Mühe gibt? Aus der Glut steigen sie auf, die Funken, helle Glühwürmchen aus Licht. Achte auf den Übergang zwischen dem Feuer und der Luft, dort wo es knistert vor Hitze. Die Funken verlassen ihre Wiege, steigen auf, getragen von der Wärme des Schoßes der sie gebar. Dort draußen veränder sie ihre Farbe. Nicht mehr als weiße Sonnen steigen sie hinaus in die Welt, nein, glühende Feuermotten sind sie geworden. Immer höher steigen sie und wie ein Spiegelbild der Flammen tanzen sie miteinander, manchmal eng, manchmal weit. Bald ist der Himmel über uns mit ihnen übersät, Feuermotten wohin das Auge blickt. Sind sie nicht wunderschön? Versuch erst gar nicht ihnen allen Namen zu geben, oder hast du schon versucht die Sterne am Himmel zu zählen? Stell‘ dir vor sie wären alle Wünsche die zum Himmel steigen. Träumereien, viel verlacht und doch so wunderbar. Manchmal wünschte ich die Feuermotten jeden Abend zu besuchen.
Warum blickst du plötzlich so traurig?
Du hast es wohl gesehen. Die Feuermotten, sie steigen auf, erleuchten den Himmel und malen Bilder aus Luft und Sehnsucht in die Welt und doch ist jede nur von kurzer Dauer, kaum sind sie des Feuers entwachsen verlieren sie an Kraft, werden blass. Als schwarzer Schnee gehen sie auf uns nieder, jede ein verlorener Gedanke und achtlos schnippen wir sie uns von den Schultern. Die Wiese ist zu ihrem Friedhof geworden. Aber was heißt das schon? Nur Dünger für die jungen Gräser.
Die Nacht ist kalt geworden, kein Feuer mehr und keine Motten. Lass uns bitte gehen‘.  Ja, ich weiß was ich gesagt habe, der Mann lässt die Flammen nicht verhungern. Sieh genau hin, die Glut ist noch da, in dem Haufen aus verbranntem Laub.
Morgen wird es wieder lodern.

Der Sterbende König

Narren die nicht an die Mythologie glauben, an Märchen. Narren die nicht den alten Geschichten lauschen von verlorenen Königreichen untem Staub der Wüsten, bevölkert von mächtigen Geistern. Glaubst du an den Topf voll Gold am Ende des Regenbogens? Dass ein Stein die Zukunft weiß und die alte Frau auf dem Hügel die Antworten in einer kleinen Kammer verschlossen hält? Das solltest du.
Der Topf voll Gold ist wirklich und die Katze auf der Schulter der Alten hat mehr vergessen als du je wissen wirst. Und ich glaube, dass da ist ein Zwerg irgendwo auf der Straße und er sucht nach jemandem Besonderes. Bei sich trägt er eine Flasche mit magischem Gebräu, begegnest du ihm und hast ein Glas dabei teilt er vielleicht einen Schluck mit dir, ansonsten wirst du sterben. Vielleicht müssen die Menschen deshalb vergehen. Ich trage immer ein Glas bei mir.
Irgendwo auf dieser Erde oder vielleicht auch irgendwann auf dieser Erde exisitiert eine Straße, lange und staubig und noch nie hat jemand ihr Ende erreicht. Ganz am Anfang findest Du ein Schild, verfallen, von Würmer zerfressen, unleserlich. Dort soll eine Warnung gestanden haben die nie jemand berücksichtigte. Es ist die Straße zu den Ewigen Toten, die Straße ins Unbekannte Rev. Es gibt einen Spruch, der einst auf goldene Wegsteinen graviert war.

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The Life of the Living  
Lives in the Life
Of the Eternal Dead
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Rev ist das Land des Sterbenden Königs und was die Worte bedeuten weiß nicht einmal er. Dort sind gefangen all jene Dinge vor denen wir uns fürchten, nein, weswegen wir überhaupt Furcht empfinden. Wer die Straße entlang wandert, den Weg der Narren, wir all jenen begegnen - Klotho, Lachesis, Atropos, mächtigen Drachen und der eigenen Vergangenheit. Es ist ein Weg in Traumzeit, ein Ort "vor-dem" was ist.
Am Ende der Straße liegt die Stadt der Toten, inmitten einer Kaverne so groß, dass alle die jemals lebten und alle die jemals leben werden in ihr Platz finden. Es heißt, wenn der letzte gestorben ist, werden sie erwachen und gen die Berge marschieren, dem Schicksal entgegen. Dort, auf den Bergen, schläft der Sterbende König und träumt von seiner Rache an der Schöpfung die seine unendliche Herrschaft beendete, denn er kann nur Leben wenn die Ordnung vergeht.

Protagonisten

Langsam las Lexia die Worte in ihrem Geist, die jemand auf diese Gusseiserne Tafel gezaubert hatte. Immer wieder nahm sei einen Zug von ihrer unruhig im Wind flimmernden Zigarette.
Die Buchstaben auf der Tafel schön gearbeitet und verschnörkelt, nicht normale Großbuchstaben wie man sie heute auf einer solchen Platte gegossen hätte.
„Dieses Monument soll an die Jahre 1809 bis 1822 erinnern. In diesen dreizehn Jahren arbeiteten viele Männer an der Regulierung Warengberger-Flusses, ihnen ist eines der größten technischen Meisterwerke unseres Jahrhunderts zu verdanken.“
Die Tafel war auf einem alten Granitblock mit schweren Eisenbolzen festgemacht worden. Weder die Jahre noch das raue Klima dieses Ortes hatten diesem Monument etwas anhaben können – bis auf etwas grünes Moos und einer leichten Verfärbung der Tafel hätte man glauben können sie wäre erst vor ein paar Tagen aufgestellt worden. Irgendwie imponierte ihr die raue, unbehauene Schlichtheit des Zeitzeugen.
„Faszinierend, nicht wahr?“ Fragte ein Mann der sich unbemerkt genähert hatte und nun beinahe Schulter an Schulter mit dem jungen Mädchen stand. Sie musterte ihn nur kurz zwischen zwei Zügen von ihrer Zigarette und ließ ihren Blick dann wieder über die Tafel schweifen. Ihm entging jedoch nicht das unstete Zittern ihrer Hände und das unnatürliche Weiß ihrer Fingerknöchel – es schien beinahe so als würde sie sich an Zigarette klammern. Ohne sich um ihr Schweigen zu kümmern zog der Fremde ein grünes Päckchen aus der Brusttasche seines Hemdes und zog etwas daraus hervor. Lexia erkannte aus dem Augenwinkel sofort, dass es eine Mentholzigarette war – und wenn sie es nicht gesehen hätte, dann hätte ihr es der scharfe, nach Minze schmeckende Rauch verraten, der ein kurzes Klicken später in ihre Richtung zog. Genüsslich zog der Mann an dem weißen Stängel und ließ eine blaue Rauchwolke in den bleigrauen Himmel aufsteigen. Das Wetter schien hier nie anders zu sein – fast so als kannte der Himmel über diesem Dorf keine Andere Farbe als das Grau von geschmolzenem Blei und trotz allem regnete es nur selten.
Ein kalter Windhauch ließ den Mann etwas frösteln und er zog den langen, schwarzen Wollmantel etwas enger um seinen hageren Körper.
„Es wundert mich immer wieder, dass dieser Block einfach allem trotzt was man ihm entgegenstellt. Schon als ich ein Kind war kamen wir hierher und sind darauf herumgeklettert – jedes Mal sind ein paar kleine Brocken abgebröselt und trotzdem, obwohl das sicher schon Generationen so sehr, scheint der Steinen keinen größeren Schaden zu nehmen. Manchmal kommt er mir kleiner vor als früher, aber das liegt wohl daran, dass ich jetzt wesentlich älter und größer bin als damals.“ Um seinen Satz zu beenden blies er eine weitere Rauchwolke in den Himmel.
„Ich bin zum ersten mal hier,“ ließ Lexia ihre ersten Worte vernehmen seit der Fremde neben ihr aufgetaucht war und aus dem Nichts ein Gespräch begonnen hatte. „Eigentlich hatte ich nicht vor irgendwelche Sehenswürdigkeiten zu besuchen, aber als ich hier entlangspaziert bin ist mir der Stein aufgefallen, also bin ich hierher gekommen und irgendwie fasziniert er mich.“ Nickend trat der Fremde einen Schritt näher zu dem Stein und ließ seine von der Kälte geröteten Finger über die raue Oberfläche der Tafel gleiten: „Ja, dieser Stein hat eine seltsame Anziehungskraft auf alle die in seine Nähe kommen. Deshalb hat man auch nie Erwägung gezogen ihn zu entfernen, obwohl er der einzige Grund ist, warum der Minigolfplatz dort drüber noch nicht erweitert worden ist.“ Lexia sah in die Richtung, in die der Fremde gedeutet hatte. Da war wirklich ein Minigolfplatz, umrahmt von einem niedrigen Maschendrahtzaun auf der einen Seite und von einer Reihe hoher Kastanienbäume auf der anderen Seite. Der Platz wirkte Tatsächlich ein wenig klein und auch ein bisschen heruntergekommen. Sie schätze grob, dass es wohl achtzehn Bahnen gab, auf denen man einen Ball durch mehr oder weniger schwere Strecken zu einem Loch bringen konnte. Die Beläge vor den Bahnen waren einmal rot gewesen, so wie die Aschebahnen in Sportstadien, doch jetzt präsentierten sie sich nur mehr n einem verblassten Orange. So wie alles in diesem Ort schien der Minigolfplatz nur wenig benutzt zu werden. Im Hintergrund schaukelten einige Boote im Becken des Jachthafens.
„Dieser Stein,“ fuhr der Fremde fort, „ ist ein Originalstück von dem Teil Land das sie sprengen mussten um dem Fluss sein neues Becken zu geben.“ Er deutete vage auf eine Spur im Stein die Lexia bisher für eine natürliche Formation gehalten hatte doch jetzt wurde ihr klar, dass dies eine Bohrstelle für den Sprengstoff gewesen war. Fasziniert betrachtete sie nun die Male des Steines genauer. Das gab dem Stein eine völlig neue Bedeutung – er war nicht nur die Halterung für eine Tafel die man zu Ehren von irgendwelchen Leuten aufgestellt hatte, sondern er war zugleich ein Zeugnis davon, wie gewaltige, von Menschen gemachte Kraft über die Natur gesiegt hatte.
„Es ist unglaublich wie lange dieser Stein schon hier steht, wenn er reden könnte hätte er sich viel zu erzählen.“ Der Fremde sah Lexia einen Augenblick durchdringend an und nickte schließlich: „Ja, das denke ich mir auch immer wieder. Nur im Gegensatz zu dir hatte ich ziemlich oft Gelegenheit darüber nachzudenken. Ich wohne nicht weit weg und gehe fast jede Nacht hier vorbei – meistens um über irgendwelche Dinge nachzudenken.“ Lässig lehnte sich der Mann a den Stein und strecke Lexia seine Hand entgegen: „Ich bin übrigens Frank, Frank Wasner. Es kommt selten vor, dass ich hie jemanden treffe mit dem ich reden kann. Die meisten bewundern den Stein nur einige Minuten und gehen dann wieder weg. Man kann an ihren Gesichtern sehen, dass sie nicht reden wollen.“ Lexia schüttelte Frank die lächelte: „Und in meinem Gesicht haben sie wohl gelesen, dass ich reden möchte, oder was?“ Vielsagend blickte Frank zuerst in das Gesicht des Mädchens, dann auf ihre Zigarette und schließlich auf die weiße, zitternde Hand, die die Zigarette kaum halten zu können schien. „Nein, ich habe eigentlich zuerst nicht dein Gesicht gesehen, sondern wie du so da standest – und deine zitternde Hand.“ Schnell versuchte Lexia ihre Hand mit der Zigarette hinter ihrem Rücken zu verbergen, aber Frank machte nur eine abfällige Geste: „Mach dir nichts draus. Das Zittern muss nicht unbedingt vom Rauchen kommen, das kann auch hundert andere Gründe haben – vielleicht ist es auch angeboren.“ Erleichtert dass Frank ihr nicht versuchte ins Gewissen zu reden nahm Lexia wieder einen Zug von ihrem Glimmstängel nur dass sie diesmal selber ein wenig erschrak als sie fühlte, wie schwer es war ihre Hand gerade zum Mund zu führen.
„Wie lange rauchst du eigentlich schon?“ Fragte Frank so vorsichtig wie es ihm möglich war. Erstaunt blickte Lexia zu ihm auf. Sie wollte ihren Mund öffnen und etwas sagen, ihm antworten wie lange sie schon rauchte, wann sie angefangen hatte, aber irgendwie ging es nicht – sie konnte sich einfach nicht mehr daran erinnern. „Es ist seltsam,“ sagte sie verblüfft, „ich weiß gar nicht mehr wann ich angefangen habe – es kommt mir so vor als wäre das die erste Schachtel in meinen Leben.“ Etwas Panik kam in ihrem Kopf auf. Sie konnte sich noch genau daran erinnern wie sie an diesem Morgen zum Kiosk gegangen war und wie selbstverständlich eine Schachtel einer bestimmten Marke verlangt hatte – wie sie die durchsichtige Schutzfolie entfernt hatte. Sie konnte sogar noch vor sich sehen, wie das silberne Schutzpapier zu Boden geflattert war. Noch bevor sie ihren ersten Zug genommen hatte, hatte ihre Hand schon begonnen zu Zittern wie die eines Alkoholkranken der nach einer Flasche billigem Fusel greift – so als würde sie endlich wieder einer lange unterdrückten Sucht frönen. Aber wann hatte sie angefangen?
Frank lächelte milde: „Das ist schon ok, ich weiß auch nicht mehr wann ich angefangen habe, es muss aber schon zwanzig Jahre her sein.“ Noch einmal musterte er das junge Mädchen – sie konnte auf keinen Fall älter als sechzehn Jahre sein. „Ihr werdet heute unglaublich schnell erwachsen,“ bemerkte er trocken.
„Ja,“ sagte Lexia, „dieser Satz hätte von meiner Mutter stammen können bevor ...“ Sie verstummte und verfiel in ein angestrengtes Schweige in dem sie Frank nicht zu stören wagte denn er konnte sehen wie es hinter ihrer Stirn zu arbeiten begann. Lexia wusste selbst nicht mehr was mit ihr los war – irgendetwas schien geschehen zu sein, schon vor einiger Zeit. Es fiel ihr so unglaublich schwer sich an bestimmte Dinge zu erinnern, manchmal kamen ihr Dinge in den Sinn, Gedanken, Worte, Bilder oder auch Meinungen, die sie einfach nicht zuordnen konnte, so als würde da für einen Moment jemand anderer für sie denken und sie dann mit den Fetzen, ohne Lösung, einfach im Regen stehen lassen. Es schien irgendwie keinen Sinn zu machen was sie gerade gesagt hatte. Diesen Satz von Frank hätte ihre Mutter nie gesagt, nicht in tausend Jahren – und was hatte dieses „bevor“ in ihren Gedanken zu suchen? Was war vorher gewesen? War ihre Mutter anders gewesen vor diesem mysteriösen „bevor“? Und wenn es so war, wieso konnte sie sich nicht mehr daran erinnern? Irgendwie schien ihr das ganze wie ein flüchtiger Traum – da waren nur Bruchstücke und je mehr sie sich auf die Einzelheiten zu konzentrieren versuchte, umso schneller schien ihr auch der letzte Rest der Erinnerung zu entgleiten.
Irgendwie gelang es ihr nach langen, schweigenden Minuten, endlich ihre Fassung wiederzugewinnen. „Ist es möglich, dass man einfach einen ganzen Abschnitt seines Lebens vergisst, so als wäre er nie geschehen?“ Die Frage wurde vom Wind davongetragen, doch Frank hatte sie gehört und er nickte: „ja, ich denke schon dass das geht. Ich war zum Beispiel einmal verheiratet, aber wenn man mich jetzt fragt was ich die ganzen zehn Jahre so gemacht habe, das schön und was interessant daran gewesen ist, dann stehe ich vor einem schwarzen Loch, ich kann mich einfach nicht mehr daran erinnern, es ist so als wäre das alles nie geschehen.“ Erbost funkelte Lexia ihr Gegenüber an: „Für dumm verkaufen kann ich mich selber auch.“ Sie wollte sich umdrehen und weggehen, doch Frank hielt sich mit einer Hand auf ihrer Schulter zurück: „Es tut mir leid, ich wollte das eigentlich gar nicht sagen aber es ist einfach über mich gekommen.“ Zögernd hielt Lexia inne. „Es tut mir wirklich leid,“ versicherte ihr Frank noch einmal. „Ich wollte dich wirklich nicht für dumm verkaufen.“ Lexia entspannte sich ein wenig und wandte sich wieder dem Steinblock zu.
„Warum bist du eigentlich hier,“ wechselte Frank schnell das Thema eher er das Mädchen wieder verärgern konnte. „Aus dem was du gesagt hast schließe ich, dass du von woanders kommst.“
In diesem Moment tat es Lexia schon wieder leid, dass sie so aus der haut gefahren war – aber irgendwie schienen ihr alle Dinge in letzter Zeit sehr nahe zu gehen – schon der kleinste Funke konnte ausreichen um sie zur Explosion zu bringen. Früher war das nicht so gewesen, da war sie sich ganz sicher. Etwas hatte sich verändert und es lag nicht nur daran, dass sie an einem anderen Ort war und alle bekannten Menschen hinter sich gelassen hatte.
„Ich bin hier weil ...“ begann Lexia doch sie vollendete ihren Satz nicht, denn in diesem Moment sah sie das kleine weiße Tier, das einige Meter von dem faszinierenden Stein und der Tafel entfernt auf einer kleinen Wiese stand und interessiert zu den beiden Menschen herüberschaute. Es war eine Katze – die schönste Katze die Lexia je gesehen hatte. Mit stolzen, funkelnden Augen und gespitzten Ohren sah der kleine Tiger zu ihnen herüber und Lexia glaube beinahe eine scharfe Intelligenz hinter dem würdevollen Blick zu erkennen, eine Intelligenz die transparent unter dem Fell zu schimmern schien. Elegant, geschmeidig wie es nur Katzen können, setzte sich das Tier langsam in Bewegung, wie ein Raubtier auf der Jagd. Frank folgte Lexia Blick und schließlich sah auch er die Katze, wie sie sich langsam näherte, ohne jede Hast und auch ohne jede Spur von Angst. Das lange, weiße Fell des Tiers wehte leicht im Wind und umgab es wie ein wallender Mantel.
„Ist das ihre Katze?“ Lexia Stimme war zu einem leisen Flüstern geworden so sehr hatte der Anblick der Katze sie in ihren Bann gezogen – beinahe wie eine Hypnose ausgelöst durch die anmutigen Bewegungen und das Spiel der zäher Muskeln unter dem dichten Fell. Trotzdem hatte Frank sie verstanden. Verneinend schüttelte er den Kopf und die Katze kam immer näher.
„Ich habe das Gefühl als würde die Katze sie kennen, Frank. Sie hat etwas seltsames an sich, wie sie mich so ansieht. Sind ihre Augen nicht unglaublich tief und klar?“
Frank nickte: „Ja, die Katze kennt mich. Ich bin ihr vor einiger Zeit begegnet. Aber ich würde nicht sagen, dass die Katze mir gehört – ein solches Tier kann niemals irgendjemandem gehören. Sie gehört nur sich selbst.“ Mit etwas dunklerem unterton fuhr er fort: „Wenn hier überhaupt irgendjemand in Besitz ist, dann bin ich es.“
Schließlich blieb die Katze vor den beiden stehen, nur eine Armlänge von Lexia und Frank entfernt. Das Tier bildete eine starken Kontrast zu dem grauen Granitblock, wie es so strahlend weiß vor ihnen hockte und sei unverwandt anblickte. Als Lexia immer tiefer im Blick der Katze versank, begann sie sich plötzlich wieder an einen Traum zu erinnern. „Frank,“ fragte Lexia vorsichtig, um den Bann nicht zu brechen, den  die Katze um sie beide gelegt hatte, „glauben sie an die Macht der Träume?“ Frank nickte ohne zu zögern: „Ich habe schon zuviel erlebt, als dass ich nicht an die Macht der Träume glauben würde. Das meiste von dem, würdest du aber wahrscheinlich nicht mal im Traum glauben.“ Lexia ignorierte den Unterton den sie nicht definieren konnte, der aber trotzdem fest in Franks Stimme mitschwang sondern beschloss statt dessen Frank von ihrem Traum zu erzählen. „Ich möchte ihnen von einem Traum erzählen, den ich vor einiger zeit gehabt habe. Bis jetzt war der Traum irgendwo in meinem Unterbewusstsein vergraben, aber als ich diese Katze sah, ist er wieder heraufgekommen und jetzt steht er vor mir, als wäre ich gerade erst daraus aufgewacht.“ Ohne etwas zu sagen hörte Frank ihr zu, er wusste, dass Katzen solche Dinge bewirken konnten, vor allem diese eine hier. „In diesem speziellen Traum stand ich in einer dunklen Gasse in irgendeiner Stadt. Aber es war keine natürliche Dunkelheit, so wie sie über die Welt hereinbricht wenn die Sonne untergeht. Es war vielmehr so, als hätte sich ein Schatten über diesen Ort gelegt, ein dunkler, rauchiger Schatten wie ein Totenschleier. Neben mir waren alte Wände aus roten Backsteinen, zumindest glaube ich, dass die Backsteine rot waren, es war zu dunkel um irgendeine Farbe genau zu erkennen.“
Frank nickte – nachts waren nicht nur alle Katzen grau.
„Hinter mir und vor mir ging die Gasse in die Dunkelheit weiter und ich konnte nicht anders als ein Bein vor das andere zu setzen, immer weiter in die Dunkelheit hinein und dem entgegen, was dort lauern mochte. Nach langer Zeit – vielleicht waren es Tage in denen die Sonne nie am Himmel erschien, erreichte ich schließlich das Ende der Gasse und ich stand auf einem weiten Platz. Auch dort herrschte diese seltsame, schwere Dunkelheit – dieser Schatten. Der Platz schien sehr weitläufig zu sein, der Boden war mit einem großen Mosaik verziert, das man von dort aus gar nicht genau erkennen konnte. Ich glaube man musste wohl auf einem der Häuser stehen um das gesamte Bild zu erkennen. In der Mitte des Platzes stand ein großer Springbrunnen, ein wundervolles Meisterwerk wie man es normalerweise vor Parlamenten sehen kann. Das bücken des Brunnens hatte mindestens zwanzig Meter Durchmesser und war mit Wasser gefüllt. In der Mitte des Beckens stand eine Statue, so groß, dass sie weit in den Himmel ragte. Die Statue sollte wohl einen Mann mit dem Kopf eines Fisches darstellen. Der Mund des Fischkopfes war weit geöffnet und ich bin mir sicher, dass normalerweise Wasser daraus hervorgeschossen kam – aber in diesem Moment war alles still und es floss auch kein Wasser. Langsam ging ich auf die Mitte des Platzes zu, zu dem Brunnen. Als ich mich umsah kam es mir vor, als wäre dies das Zentrum einer Fußgängerzone, denn am Rand des Platzes waren kleine Restaurants, Bars und Schaufester. Vor einigen der Gebäuden standen sogar diese Sommerstühle wie man sie manchmal vor Cafes sehen kann wen die warme Jahreszeit beginnt. Aber da waren keine Menschen und wenn ich ein Schaufenster genauer ansah, konnte ich Staub auf dem Glas sehen und es wirkte verschmiert – so als wäre dieser Ort schon vor langer Zeit verlassen worden. Die ganze zeit über hatte ich das Gefühl völlig alleine zu sein. Erst als ich immer näher an den Brunnen herankam, fühlte ich so etwas wie einen kalten hauch in meinem Nacken, dieses Gefühl das man manchmal hat wenn man aus dem Hinterhalt beobachtet wird. Nach einiger Zeit stand ich dann direkt vor dem Brunnen und ich konnte das Wasser vor mir sehen – es war kristallklar und funkelte, trotz der Dunkelheit. Noch nie in meinem ganzen Leben habe ich so klares und sauberes Wasser gesehen. Selbst das Becken war völlig sauber – klein Schlamm, kein Moos, kein Dreck. Normalerweise schwimmen tote Fliegen und kleine Papierfezen in solchen öffentlichen Brunnen aber hier schien es, als wäre es gerade erst gereinigt worden. Aber trotzdem war da etwas, das nicht in den Brunnen gehörte – oder eigentlich mehrere Dinge: Am Grund des Brunnens lagen kleine, silberne Münzen und sie funkelten zusammen mit dem Wasser.“ Entschuldigend zuckte Lexia mit ihren Schultern ehe sie fortfuhr: „manchmal hat man in Träumen die Dinge nicht ganz unter Kontrolle und so ging es auch mir. Eigentlich wollte ich es gar nicht tun, aber noch bevor ich mich wehren konnte, war ich im Brunnen und tauchte zu den Münzen hinunter. Ich kann mich genau erinnern, wie unangenehm kalt das Wasser war, wie es mir die Kluft aus den Lungen zu pressen suchte und wie mein Herz von der plötzlichen Kälte unregelmäßig zu schlagen begann. Die Kälte des Wassers begann an meinem Kopf zu saugen und irgendwie hatte ich das Gefühl es würde meine Erinnerungen Stück für Stück einfrieren und dann zerklirren lassen – wie eine Rose die man in flüssigen Stickstoff taucht und dann auf den Boden wirft.“
Frank spürte, wie sie jedes einzelne seiner Nackenhaare aufstellte, ein Gefühl wie er es schon lange nicht mehr erlebt hatte. „Das Wasser des Flusses Lethe,“ sagte Frank halblaut vor sich hin. „Was haben sie gesagt? Verlangte Lexia zu wissen, doch Frank winkte ab: „Nur eine alte griechische Sage. Erzähl bitte weiter.“
Lexia musste erst ihre Gedanken sammeln, ehe sie weitererzählen konnte. „Aber dann erreichte ich den Grund des Brunnens. Mit einer Hand nah mich die Münzen auf und mit der anderen stieß ich mich ab um wieder an die Oberfläche zu kommen. Es schien eine Ewigkeit zu dauern, bis ich endlich mit dem Kopf die Wasseroberfläche durchstieß und mit beiden Händen den Rand des Beckens zu fassen bekam. Ich hätte nie gedacht, dass dieser Brunnen so tief sein konnte – aber manchmal täuscht klares Wasser sehr. Als ich dann über den Rand des Beckens hinaussah, konnte ich sie sehen – es waren hunderte von Katzen – sie schienen von überall zu kommen und sie waren alle so dunkle wie die Nacht – grau und eine wie die andere funkelten sie mich böse an. Ich konnte ihre Wut fühlen, wie sie in der Luft vibrierte denn ich hatte etwas Verbotenes getan, etwas, was gegen ein ungeschriebenes Gesetz verstieß. Nass und völlig unterkühlt stieg ich aus dem Becken – eine andere Wahl ließ mir der Traum nicht und so stand ich dann tropfend vor den Katzen. Dann wurde alles plötzlich sehr unklar und das nächste was ich weiß war, dass die Katzen weg waren und sich ein leuchtend blaues Tor vor mir öffnete und da war diese Katze. Sie war strahlend weiß, nicht grau wie die anderen. Es schien so, als würde auf genau diese Katze die Sonne scheinen, die Sonne die man an diesem Ort sonst nie zu sehen bekam und ich konnte die Stimme der Katze in meinem Kopf hören. Sie forderte mich auf ihr zu folgen, durch das Tor zu gehen und ihr zu folgen. Diese Worte hallten immer und immer wieder in meinem Kopf nach. Dann bin ich aufgewacht und es war zu Ende.“ Alexcis zuckte mit den Schultern: „Mehr weiß ich leider nicht, das ist alles. Aber die Katze in dem Traum sah genauso aus wie diese Katze.“ Lexia deutete auf das Tier, das immer noch majestätisch vor ihnen hockte und jedem Wort der Erzählung scheinbar interessiert beigewohnt hatte.
Frank atmete tief durch und ließ die mittlerweile heruntergebrannte Zigarette auf den geteerten Weg fallen. Er ließ Lexia nicht aus den Augen während er eine weitere Zigarette aus dem grünen Päckchen holte. Auch Lexia steckte sich eine neue Zigarette an und sog mit zitternden Fingern den Rauch tief in ihre Lungen ein.
„Weißt du,“ sagte Franke, „ich denke mich verwundert gar nichts mehr, nicht nach all den seltsamen Vorfällen durch die ich durchmusste. Bei mir hat alles vor einiger Zeit mit eben dieser Katze angefangen.“ Er deutete auf die weiße Katze die ihm zuzunicken schien. „Als ich ihr begegnete hat alles angefangen und jetzt stehe ich hier, mit dir und wir reden über einen Traum der unter normalen Umständen eigentlich völlig absurd und wäre und keinen weiteren Gedanken verschwenden müsste, aber,“ er nahm einen tiefen Zug von der Zigarette, „dies sind keine normalen Umstände denn ich kenne den Ort von dem du geträumt hast und ich bin mir ziemlich sicher, dass das mehr als nur ein Traum war.“ Lexia sah den Mann überrascht an. Ganz genau musterte seine Züge, versuchte dort Falschheit, Trug oder etwas anderes Dunkles zu erkennen aber alles was sie sah war das Gesicht eines einen offenen und ehrlichen Mannes der ihr die Wahrheit gesagt hatte.
„Woher kennen sie diesen Ort?“ Wollte Lexia sofort wissen. Frank seufzte so, als hätte er eigentlich lieber nicht darüber gesprochen aber er wusste, dass es nicht anders ging: „Der Ort von dem du geträumt hast nennt man die dunkle Stadt. Eigentlich wissen nur sehr wenige Menschen, dass es diesen Ort überhaupt gibt und ich kann dir versichern, dass das einen guten Grund hat. Die dunkle Stadt ist ein gefährlicher Ort und der gefährlichste Platz ist der alte Springbrunnen bei dem du gewesen bist. Es ist ein Wunder, dass du lebend von dort entkommen bist aber vielleicht liegt es auch daran, dass du nur im Traum dort warst.“
„Waren sie auch schon dort?“ Wollte Lexia schüchtern wissen. Etwas unbehaglich zog Frank seinen Mantel noch enger um seinen Körper, so dass er beinahe schon wie eine Mumie wirkte die man in schwarze Tücher eingewickelt hatte. „ja,“ bestätige Frank Lexia Vermutung, „ich war schon einmal in dieser Stadt aber nur ganz kurz und ich kann dir versichern, dass ich es mein ganzes Leben lang nicht mehr vergessen werde. Es war die Katze die mich damals von dort gerettet hat. Wie dich hat sie auch mich durch ein blaues Portal gelotst und vor einem schlimmen Ende bewahrt. Dieser Ort ist sehr gefährlich und ich weiß heute noch nicht wie ich so verrückt sein konnte mich in diese Gefahr zu begeben.“ Nachdrücklich wandte Frank sich dem Mädchen zu und sah ihr tief und ernst in die Augen: „ich möchte ehrlich zu Dir sein. Ich denke nicht, dass es ein Zufall war, dass wir uns hier getroffen haben – etwas wollte, dass wir uns begegnen, unsere Wege mussten sich kreuzen.“ Beide sahen unwillkürlich zu der Katze hinüber, die sich jetzt unschuldig die Pfoten mit der rauen Zunge reinigte. „Ja, wahrscheinlich war es die Katze die das so wolle,“ sprach Frank aus, was sie beide in diesem Augenblick dachten. „Diese Katze ist wesentlich mehr als sie zu sein scheint und sie bestimmt meinen Weg schon seit einiger Zeit auf die merkwürdigsten Arten. Ich denke in diesem Fall müssen wir ihr einfach vertrauen und uns gehen lassen.“
„Wie meinen sie das,“ fragte Lexia vorsichtig. Frank faltete seine Hände: „ich denke du solltest erst mal mit mir mitkommen. Es gibt da jemanden den ich dir gerne vorstellen möchte. Im Moment hast du sicher keine Ahnung was da alles dahinter steckt aber es ist wesentlich größer als alles, was du jemals zuvor erlebt hast – und wir sind nicht alleine. Es gibt Menschen die Verfolgen mich und alle mit denen ich Kontakt habe oder hatte. Ich befürchte, dass auch du jetzt in diese Sache hineingeraten bist.“ Unentschlossen sah sich Lexia um. Sie waren alleine, nirgendwo konnte man heimliche Verfolger sehen, da stand auch nirgends ein geparkter Lieferwagen wie man es immer in Agentenfilmen sah – die Welt wirkte genauso verschlafen und friedlich wie in dem Moment als sie den Stein entdeckt hatte. Frank schien ihre Gedanken lesen zu können, denn er legte ihr beruhigend seine schwerer hand auf die Schulter: „Ich denke nicht, dass hier schon irgendjemand auf mich lauert – im Moment bin ich ihnen immer einen Schritt voraus, manchmal sogar zwei, aber irgendwann finden sie die Fährte immer und ich bin mir sicher, dass sie in ein oder zwei Tagen auch hier sein werden um zu sehen, was ich wollte. Doch dann werde ich hoffentlich schon lange wieder woanders sein. Alles was ich gerne von dir hätte wäre, dass du mit mir kommst und nur fünf Minuten einer Freundin zuhörst. Sie kennst sich viel besser aus als ich, sie war es auch, zu der die Katze zuerst kam. Ich bin mir sicher, dass sie dir helfen kann was deinen Traum betrifft. Wir müssen herausfinden, warum wir uns hier getroffen haben, warum die Katze wollte, dass wir miteinander reden.“ Lexia sah zu der Katze hinüber und diesmal sah ihr das Tier genau in die Augen, bis tief auf den Grund. Es war als würde sich das bild der Katze, wie sie on der dunklen Stadt vor dem blauen Tor stand und das Bild, wie die Katze jetzt vor ihr saß und sie anblickte, langsam überlagern – sie waren völlig identisch. Auch die letzten Zweifel wurden jetzt weggewaschen und Lexia war sich nun ganz sicher, dass der Traum etwas zu bedeuten gehabt hatte. Vielleicht hatte er sogar mit den seltsamen Ereignissen der letzten Monate zu tun – möglicherweise würde sie jetzt sogar die Antwort darauf finden, warum ihr alles so fremd erschien und sie sich an verschiedene Dinge einfach nicht mehr erinnern konnte.
„Also gut,“ sagte Lexia nickend, „ich werde mit ihrer Freundin reden und vielleicht kann sie mir wirklich auf ein paar Fragen Antworten geben. Aber ich werde nicht sofort mit ihnen mitkommen, selbst wenn sie das wahrscheinlich wollen. Ich bin aus einem bestimmten Grund in dieses Dorf gekommen, es gibt da noch etwas das ich erledigen muss, jemanden den ich treffen muss.“ Frank schürzte seine Lippen nachdenklich und Lexia konnte sehen, dass ihm nicht gefiel was er hörte, aber schließlich nickte er widerstrebend: „Also gut. Ich werde dir meine Adresse geben, aber ich werde nur noch heute und morgen hier sein, danach bin ich wieder fort und wir werden keine zweite Gelegenheit haben uns zu unterhalten.“ Frank reichte dem Mädchen eine kleine weiße Visitenkarte mit einer Adresse darauf. Die Karte war nicht professionell gemacht, sie sah eher so aus wie aus einem Automaten in einem Kaufhaus. Wortlos nahm sie die Karte entgegen, als ihr plötzlich etwas einfiel: „Vielleicht könnten sie mir noch helfen bevor ich gehe. Ich sollte zu einem bestimmten Haus in der Stadt, es heißt Millennium Club. Dort treffe ich mich mit jemandem. Wenn ich ihnen die Adresse geben könnten sie mir vielleicht sagen wie ich dorthin komme.“ Lexia befürchtete, dass Frank umkippen würde, als plötzlich jede Farbe aus seinem Gesicht wich. Mit großen Augen sah er Lexia an und rang um Beherrschung. „Der Millennium Club?“ Stotterte er. Lexia nickte. „Ja, der Millennium Club. Stimmt etwas nicht damit?“ Die Katze kam ein wenig näher zu den beiden und Lexia glaube auch in ihren Augen ein beunruhigtes Funkeln zu sehen.
„Was ist denn jetzt mit diesem Club?“ wollte Lexia von Frank ungeduldig wissen. Mit größter Mühe nahm Frank einen Zug von seiner Zigarette: „Der Millennium Club ist kein Haus in dieser Stadt, es ist eigentlich nicht einmal mit irgendetwas vergleichbar was man landläufig als Club bezeichnet. Dort drinnen gibt es weder bunte Schirmchendrinks noch Musik oder tanzende Leute. Der Club ist mehr eine Idee, eine Institution hinter einer Institution. Der Club besteht aus einigen älteren Herren die gerne eine Zigarre rauchen und davon träumen über die geschickte der Menschen zu herrschen. Das gefährliche daran ist, dass diese Männer in direktem Kontakt mit denen stehen die mich, die Katze und meine Freundin verfolgen. Sobald der Club auftaucht sind auch wir in Gefahr.“ Frank fluchte leise in sich hinein. Eigentlich hatte er erwartet noch mindestens eine Woche sicher zu sein in diesem Dorf aber scheinbar waren die Verfolger dichter an seinen Fersen als er bisher vermutet hatte. Lexia lächelte, als die Katze um ihre Beine schmeichelte – zumindest in diesem Punkt schien sie nicht anders zu sein als alle normalen Stubentiger die ihr bisher begegnet waren.

Die Inschrift im Stein

So ziehe ich über die Welt und betrachte die, die es nicht wert sind gesehen zu werden. Ich spreche zu denen, die es nicht wert sind angesprochen zu werden und ich nehme die mit mir, die es nicht wert sind mitgenommen zu werden. So fürchtet euch vor mir, denn ich bin der, der die Dunkelheit mit sich führt, ich bin der, der das letzte Buch am letzten Tag schließen wird. Ich bin der dunkle Mann, der, der mit seinen Beutel durch die Strassen zieht und die Seelen sammelt. Ich bin der, der tausend und eine Geschichte kennt – der, der alle Geschichten kennt und jede Geschichte mit einem Ende versieht, das niemand erahnen kann. Jedes Wort, das jemals auf einem Markt gesagt wurde, hallt in meinen Ohren wieder und so bin ich nun gekommen, um die Wahrheit darüber niederzulegen, was die Stunde der Macht ist. Denn die Zahl der Macht ist sieben und die Stunde der Macht soll auf alle Zeit die siebte Stunde sein. Bald werde auch ich eine Geschichte sein, so wie tausend und eine andere, die in mir leben, denn die Dinge werden sich verflüchtigen und blasser werden. Meine Weisheit lege ich in diesen Stein und wenn ich wiederkommen, so soll auch dieser Stein es sein, der mich begrüßt wie das Abendrot, dessen Bote ich bin. Wer weiß auf dieser Welt – oder auf jeder anderen Welt – an welchem Ort sich die Zitadelle der Siebten Stunde befindet? Wen soll ich nach dem Weg fragen? Ich kenne den Weg und deshalb will ich euch sagen, wo sich die Zitadelle befindet: An jenem geheimnisvollen Ort, an dem alles zusammenläuft, an dem Ort, an dem sich alle Möglichkeiten treffen und von dem es keinen Ausweg mehr gibt, weil er das Ende aller Wege darstellt, dort sollt ihr die Zitadelle suchen denn nur dort kann sie sein. Wo sonst als am Ende aller Strassen soll sich das Ende aller Wirklichkeiten befinden? Wenn es einen besseren Ort gäbe, so wäre sie dort. Niemand weiß wozu und wann die Zitadelle gebaut wurde – niemand weiß, wer wohl die Kraft hätte, ein ganzes Kloster aus einem Bereg zu schlagen, bis nur mehr das Kloster und sonst nicht sehr steht – alles aus einem einzigen Stein. Vielleicht war es die Macht selbst, die hinter der siebten Stunde steht. Auch weiß niemand wer die sind, die sich selbst als die „Mönche“ bezeichnen. Hütet euch vor den Mönchen, sie sind dunkle Wesen, die selbst mir des Nachts den Angstschweiß über den Rücken jagen. Vielleicht sind diese Mönche so alt wie das Universum selbst – was ihre Bösartigkeit betrifft, so kann sich kein Wesen mit ihnen messen. Sie bewachen die Zitadelle und sie leben in der Zitadelle, wenn sie denn überhaupt leben. Kein Geist der lebt kann die Absichten der Mönche fassen – manche sagen sie seien das pure Chaos, das am Anfang der Zeit geronnen ist zu festen Körpern, andere sagen sie würden ein dunkles Geheimnis hüten, das niemand zu Gesicht bekommen dürfe. Nur wenige Male zuvor sind die Mönche in der Welt der Lebenden erschienen und viele Tore sind vor ihnen schon verschlossen worden denn jene die sich weit genug entwickelt haben müssen Wege finden die Mönche am Eindringen in ihre Welt zu hindern –sonst kommen sie. Feurige, verbrannte Spuren ziehen sie hinter sich her, wenn sie über den Boden schreiten, ihre Berührung ist der Tod. Wurden die Mönche vielleicht vor langer Zeit geschaffen? Möglich wäre es, ich habe schon seltsamere und magischere Dinge gesehen auf meinen Reisen. Sind sie eine verlorene Waffe? Die Propheten des Aaron sagen, dass die Mönche der Fluch des Lebens seien – doch sie sagen auch, dass eines Tages einer kommen werde, der anders sein wird als alles, was bisher gelebt hat. Dieser eine wird eine Macht in sich vereinen, die sich mit der Macht der Mönche messen kann. Doch seine Macht wird die Macht des Guten sein, eine wilde, ungezähmte Macht, ebenso chaotisch wie gut. Die Kraft der Mönche ist dunkle und zerstörerisch, sie sind die Meister des Todes und sie selbst haben sich dem Tod durch ihre Künste verschlossen. Wanderer – kennst Du die Propheten des Aaron? Sie leben an einem einsamen Ort, ihren eigenen Künsten zugewandt doch immer dann mit ihrer Stimme zugegen, wenn das Chaos irgendwo sein Haupt erhebt. Schon vielen verzweifelten Wesen haben sie mit Rat und Tat zur Seite gestanden, doch ihre größte Prophezeiung, der Mittelpunkt ihrer mystischen Lehre, ist der Glaube an die Wiederkehr ihres Propheten Aaron. Man sagt, dass Aaron den Orden der Propheten vor vielen Zeitaltern gegründet hat. Er selbst sagte seine Wiederkunft niemals voraus aber die späteren Propheten taten es. In uralten Büchern steht geschrieben, dass einer kommen wird, der die siebte Stunde endgültig eindämmen wird, ein Held, ein Gott. Erst dann wird Aaron wiederkehren und seinen Propheten die letzten Geheimnisse des Universums offenbaren. Seit unendlichen Zeitaltern nun durchkämen die Propheten mit ihren Gedanken jeden Winkel der Wirklichkeit um den Helden zu suchen und ihm zur Seite zu stehen, denn wenn dieser Held scheitert – dann wird Aaron niemals wiederkehren und vielleicht wird die Stunde der Macht die einzige sein, die noch auf den Uhren dieser Zukunft zu sehen sein wird.