Sonntag, 26. Juni 2011

Die Zeit heilt alle Wunden

Es ist wieder so weit. Ein neuer Blogeintrag steht bevor und wie immer möchte ich alles Leser ausdrücklich vor dem Inhalt warnen. Das könnte deprimierend und/oder langweilig sein. Im schlimmsten Fall ist der Leser völlig anderer Meinung und mag mich danach nicht mehr (sofern das nicht vorher schon der Fall war). Inhaltlich handelt es sich wie immer um meine persönliche, private Meinung und so weiter und bla. Tippfehler sowie diverse Verbrechen an der deutschen Grammatik sind beabsichtigt und sollen den Leser ermutigen seine eigenen Rechtschreibkenntnisse zu prüfen. 

Die Zeit heilt alle Wunden. Zumindest sagt man das. Ich persönlich liebe ja diese ganzen Familienserien wie Beverly Hills 90210 (die alte Version aus den 90ern, nicht das Neue), The OC (hier auch als OC California bekannt), One Tree Hill und wie sie alle heißen. Auch, weil darin so denkwürdige Sätze wie der vorhin genannte fallen. Manchmal reicht dann so ein One-Liner schon, um mich nachdenklich zu machen. Da bin ich etwas komisch, gebe ich offen zu. In jenen Momenten beginne ich mich zu fragen, wo dieser Satz herkommt, was er bedeutet, wie er sich entwickelt hat und vor allem: Wie viel Wahrheit steckt denn drinnen in so einer „Weisheit“?
Als Wissenschaftler bin ich mit dem kleinen Tierchen namens „Bias“ sehr vertraut. Der Bias ist ein kleines, mit bloßen Augen fast nicht wahrnehmbares Spinnentier, der gemeinen Zecke nicht unähnlich. So wie Bakterien und Viren ist der Bias immer da. Egal was wir tun, wir sind von ihm und seinen Artgenossen umgeben. Wir leben und atmen den Bias quasi täglich. Wissenschaftlich betrachtet ist der Bias eine Wahrnehmungsverzerrung. Wir erwarten ein bestimmtes Ergebnis also bekommen wir es auch. Manchmal hat man das Gefühl der Mensch sei eine Bias-Maschine, immer darauf bedacht möglichst viel zusätzlichen Bias in die Welt zu schmeißen. Aber das ist eine andere Geschichte. Grundsätzlich müssen wir damit leben, dass es diese Verzerrungen gibt, wir strukturieren unser ganzes Leben anhand dieser. Als Wissenschaftler wird man schon früh darauf trainiert den Bias zu erkennen, ihn zu benennen und möglichst an den Rand zu drängen. Eigentlich gemein, der Bias hat nie wirklich eine Chance zu glänzen, er muss sein Dasein sozusagen im Brennpunkt (hach, auch so ein herrlicher Euphemismus) der wissenschaftlichen Gesellschaft verbringen. Dafür tut er aber alles, um denen im Rampenlicht die Party zu vermiesen. Loswerden kann man ihn nicht, zumindest nicht so lange wir noch denkende, fühlende Wesen sind, dazu ist der Bias fiel zu tief in uns verankert.
Warum erwähne ich das alles? Nun, ich denke, dass solche Sprüche wie „Die Zeit heilt, alle Wunden“ auf einem solchen Bias, einer fatalen Wahrnehmungsverzerrung, beruhen. Betrachten wir diese Aussage doch einmal genauer. „Die Zeit heilt alle Wunden“. Ich glaube dem Satz fehlt folgender Anhang: „… außer jene, an denen man zugrunde geht“.
Klingt jetzt etwas hart. Beinahe schon brutal. Oder nicht? Ist aber leider wahr. Wenn die Zeit wirklich alle Wunden heilt, dann dürfte es keine traurigen, verlorenen und unglücklichen Menschen mehr geben auf dieser Welt. Zumindest nicht auf lange Sicht. Aber sie sind da. Überall. Man muss nur genau hinschauen. Tatsächlich macht der Satz an sich die Situation oft noch schlimmer, aber dazu später mehr.
Zuerst die Grundfrage: Wie kann ein solcher Satz entstehen? Ein Satz, der so offensichtlich nicht wahr ist? Im Grunde steht er ja auf Augenhöhe mit dem allseits gefürchteten: „Es wird alles wieder gut!“ Brr, der Satz fühlt sich an wie das Geräusch eines Zahnarztbohrers. Im Grunde sagt er ja auch nichts anderes als: „Ich habe keine Ahnung wie es weiter geht aber mach dir mal keine Sorgen so oder so, wird schon irgendwas passieren!“
Ja, wie nur kann so ein Satz das milde Licht der Welt erblicken? Ich glaube es liegt an einem sehr starken und äußerst beliebten Bias. Sozusagen der Hulk Hogan der Biase (erinnert sich noch wer an Hulk Hogan?).
Nehmen wir folgende hypothetische Situation: Es gibt ein Medikament, welches bei einer potenziell tödlichen Krankheit eine Heilungschance verspricht. Nun wollen wir wissen, ob dieses wirklich heilt. Also wollen wir das prüfen. Aber wie? Na klar, wie gehen rum zu allen Leuten, die das Medikament bekommen haben und fragen, ob es ihnen geholfen hat. ----- Sieht wer das Problem? Alle, die noch in der Lage sind, uns zu antworten, werden wohl mit hoher Wahrscheinlichkeit angeben, dass Ihnen das Medikament geholfen hat (bis auf ein paar Ausnahmen, die wir dann als „Ausreißer“ aus dem Datensatz eliminieren). Sonst wären sie ja tot. Wir stehen also am Ende mit einer Liste da, auf der nur Namen stehen von Leuten, denen das Medikament geholfen hat. Und kein einziger Name, bei dem es nichts gebracht hat. So amüsant-absurd das jetzt auch klingt – Alltagslogik funktioniert genauso. Jene die verstorben sind können ihre Meinung nicht mehr kundtun. Und so ähnlich ist es auch mit der Zeit die alle Wunden heilt. Jeder, der diesen Satz benutzt, hat am eigenen Leib wohl schon erlebt, dass die Zeit dazu imstande ist. Aber was ist mit all den anderen? Mit jenen, deren Wunden die Zeit nicht geheilt hat? Die daran zugrunde gegangen sind? Sie sind stumm, weil sie keine Lobby haben. Aus der Zählung fallen sie einfach raus. Im Prinzip ist der Satz an sich eine nicht widerlegbare Hypothese: Atmest du noch, dann hat er immer noch die Chance wahr zu werden, weil noch Zeit da ist, um deine Wunden zu heilen. In dem Moment, in dem du aufhörst, zu atmen fragt dich keiner mehr.
Man mag jetzt einwerfen, dass es sich hierbei um kein großes Problem handelt. Sicher keines, das es wert wäre kostbaren Speicherplatz im Netz zu vergeuden (ja, auch dieser Blog nimmt Speicherplatz ein, wobei man jetzt über den Wert desselben streiten könnte – solange es ganze Armeen vonseiten gibt, die sich nur dem Vertrieb von süßen Bildschirmhintergründen mit Kätzchen drauf verschrieben haben …). Aber das Problem beginnt dort, wo Menschen aufgrund solcher Sätze nicht mehr die Zuwendung und Hilfe bekommen, die sie eigentlich notwendig hätten. Wie oft denkt man sich „die Zeit wird das schon richten“, wenn uns ein Mensch in psychischer Not begegnet? „Das wird schon wieder“, „geh‘ hab dich nicht so, das geht vorbei“, „Morgen sieht die Welt ganz anders aus“, „die Zeit heilt alle Wunden, wirst schon sehen“ und ähnliche Aussagen geben jenen nicht selten das Gefühl irgendwie „schwach“ zu sein, sie fühlen sich dann unter Druck, dass es ihnen endlich besser geht – denn wenn die Zeit alle Wunden heilt, es mir aber trotzdem nicht besser gehen will, dann muss doch der Fehler irgendwo bei mir liegen, nicht? Und vielleicht werden sie irgendwann so tun, als ginge es besser, nur um diese Sätze nicht mehr hören zu müssen.
So viel dazu. Würde mich über Rückmeldungen freuen!

Samstag, 18. Juni 2011

Damien Jurado und verletzte Vögel

Wie immer stellt dieser Text meine persönliche Meinung dar. Muss man nicht gelesen haben. Ist vielleicht sogar besser, wenn man es nicht gelesen hat. Außerdem leg es mir fern irgendjemandem mit meinen Texten Schaden zuzufügen. Soviel mal zur Warnung!


Also gestern habe ich auf einer längeren Zugfahrt auf meinem iPod Touch (man verzeihe die subtile Schleichwerbung aber ich mag das Teil wirklich und bekomme absolut kein Geld von Apple für – im Gegenteil, ich habe verdammt viel dafür bezahlt) wieder mal „Live at Landlocked“ von Damien Jurado gehört.

Wer den Kerl noch nicht kennt sollte das schnell ändern. Wobei man den Stil auch mögen muss. Seine Musik ist sehr textlastig, soll heißen, dass die Melodie vielfach nur den Text unterstützt und nicht, wie bei so manchen anderen Musikern und Bands, der Text nicht mehr als triviales Beiwerk ist um die Zeit bis zum nächste Gitarrensolo bzw. gestöhnten Powergesang zu überbrücken. Im Grunde sind die meisten Songs von Damien sehr ruhig und der Fokus liegt auf seiner Stimme und einer Gitarre. Mag für manche jetzt langweilig klingen – mir gefällt’s.

So saß ich da im Zug, ließ die Kilometer an mir vorbeiziehen und dann lief wieder dieses eine Lied: „Sheets“ von besagtem Herrn Jurado. Ich muss ganz ehrlich zugeben, dass mich die Lyrics immer wieder packen und durch den Fleischwolf drehen. Dabei weiß ich nicht einmal so genau warum – außer, dass ich das Gefühl habe genau zu verstehen wie der Text gemeint ist. Eine persönliche Verbindung. Vorweg sei aber auch gesagt, dass ich noch nie mit Damien persönlich darüber gesprochen habe (und nein, ich kenne ihn nicht also wird das eher schwerlich geschehen), ich weiß nicht wie seine Interpretation aussieht. Vielleicht liege ich ja völlig falsch? Wäre nicht das erste mal.

So wie ich den Text verstehe geht es um einen Mann, der in einer Beziehung mit einer Frau ist, die noch an einem anderen hängt. Wer kennt das nicht? Die Freundin kommt einfach nicht vom Ex los, aus irgendeinem Grund fühlt sie sich noch mit ihm verbunden. Vielleicht weil sie glaubt, dass er nicht so recht über die Trennung hinwegkommt und ihm helfen möchte, vielleicht weil er eine „verletzte“ Seele ist, die immer noch ihren Zuspruch braucht. Das Lied beginnt so:

Is he still coming around like an injured bird needing a nest?
A place to rest his head in a song you'll regret
Lord knows I don't want to compete
But I still sleep in the very sheets he's been in

Ich finde das ziemlich treffend. Er, der immer wieder vorbeikommt wie ein verletzter Vogel der ein Nest braucht. Und auf der anderen Seite das Erzähler-Ich, welches irgendwie spürt, dass es dagegen nicht ankommt aber trotzdem auch nicht einfach weg kann. Der Erzähler schläft in denselben Laken in denen auch „er“ schläft. Also ich persönlich finde diese Textstelle extrem hart und unglaublich ehrlich.

Seid Ihr nicht auch schon mal in einer solchen Situation gewesen? Vielleicht war es ja nicht mal wirklich euer Freund oder eure Freundin, welche nicht von jemandem losgekommen ist aber alleine von außen dabei zuzusehen kann verdammt weh tun, weil es einfach nicht gesund ist. „Er“ kommt immer wieder zurück, zeigt seine Wunden und „sie“ geht sofort in den barmherziger Samariter Modus ohne zu merken, wie weh das dem eigentlichen Partner tut. Ich habe auch schon Männer gekannt, die das absolut ausgenutzt haben. Natürlich auch Frauen. Ich benutze hier vorwiegend eine bestimmte Geschlechtsform weil ich die Geschichte hauptsächlich von einer Seite her kenne – man mag mir dies nachsehen (oder auch nicht). Und wenn mir mal ehrlich sind – wollen wir nicht alle dem „armen verwundeten Wesen“ helfen – aber was, wenn wir dabei anderen weh tun? Und was, wenn der vermeintlich Verwundete gar nicht so verletzt ist wie er es vorgibt zu ein? Wenn es alles nur ein Spiel ist? Eine Masche? Ich habe das schon erlebt.

Es ist ja generell verblüffend wie manipulativ Menschen werden können wenn es um die Liebe geht. In solche Situation sind sie sich für nichts zu schade und kein Trick scheint mehr zu schmutzig zu sein. Aber wie sagt man so schön: „In der Liebe und im Krieg ist alles erlaubt“. Und nirgendwo sonst zeigt der Mensch sein wahres Gesicht in all seiner Scheußlichkeit. Andererseits sind es auch der Krieg und die Liebe in der die Menschen über sich hinauswachsen und ihr wahres Potenzial entfalten. Sowohl im Positiven als auch im Negativen. Das Gute und das Böse liegen eben doch nahe beieinander.  

Ist das vielleicht auch der Grund warum sich viele Leute recht offensiv so geben? An dieser Stelle komme ich leider nicht an einem mehr oder weniger kleinen Seitenhieb auf Twilight vorbei. Ist Edward nicht die fleischgewordene „Verwundung“ schlechthin? Wenn man in seine müden, schmerzgeplagten Augen blickt, seine gequälte Mimik – ja seine ganze Körperhaltung schreit einfach nur: „Meine Seele leidet, halt mich fest, gib mir ein Nest und pfleg‘ mich gesund!“ Könnte ja sein, dass da auch Berechnung dahinter steckt. Also jetzt nicht von Edwards Seite (der Arme ist ja nur eine fiktive Gestalt) aber doch von Seiten der Autorin. Verliebt sich die „Krankenschwester“ nicht oft in ihren „Patienten“? Hierzu würde mir der „Florence Nightingale Effect“ einfallen. War aber auch wirklich schlau Edward so anzulegen. Wobei natürlich schon der eine oder andere Vampir bei Anne Rice in diese Kerbe schlägt (an alle die sich nicht mehr erinnern: Anne Rice schrieb tolle Vampirbücher lange bevor es „in“ wurde als Geschöpf der Nacht im Sonnenlicht zu glitzern).

Sollte man aus all diesen Gründe potenziell verletzte Vögel im Auge behalten? Wer weiß, wann die ein Nest brauchen und wo sie es baue wollen. Vielleicht, vielleicht auch nicht. Im Grunde ist es auch so wie mit allen Dingen des Lebens – man zimmert sich selbst irgendwelche Richtlinien zusammen, versucht sich dran zu halten und schraubt mit der Zeit dran herum bis man so etwas wie eine persönlich Ethik vor sich hat in der man in der Nacht beruhigt schlafend kann. Aber mehr als eine provisorische Hundehütte wird es nie werden. „It’s all kinda touch and go“. So würde der Anglophile wohl sagen.  

Worauf wollte ich eigentlich hinaus? Im Grunde zwei Dinge: Damien Jurado ist ein verdammt guter Singer/Songwriter der echte Emotionen hervorrufen kann und manchmal sind die Menschen nicht das, was sie scheinen. Ich denke den Rest überlasse ich den Lesern dieser Zeilen und würde mich über Kommentare freuen.

Montag, 13. Juni 2011

Meine Geschichte im Alpha-Channel

Liebe Leser meines Blogs,

am 10.06.2011 war es so weit, meine Kurzgeschichte "Die letzte Zuflucht" wurde im Alpha-Channel online als Stream übertragen. Gelesen hat das ganze Rena Larf - meiner Ansicht nach sehr professionell und schön!

Wer das große Event verpasst hat, muss sich jetzt keine Sorgen machen, denn die Sendung steht weiterhin online als Stream zur Verfügung oder kann auch direkt heruntergeladen werden (das wär doch was, "Dan für unterwegs", hihihi). Wer also Lust hat reinzuhören, kann das unter diesem Link tun:

http://de.1000mikes.com/show/alpha__channel

Du findest die Geschichte gut? Dann lass es die Welt wissen und applaudiere - ist nur ein Klick und würde mich wahnsinnig freuen!

Ich wünsche Euch viel Spaß und neue Blogeinträge werden folgen!

Donnerstag, 2. Juni 2011

Das Leben ist 'ne komische Sache

Dieser Text hat das Potenzial deprimierend zu sein, zumindest für bestimmte Personen. Wer etwas Lustiges lesen will ist hier verkehrt und sollte schleunigst die Seite wechseln. Das war eine Warnung.
Wer in diesen Worten die Wahrheit sucht wird wahrscheinlich enttäuscht werden. So etwas wie Wahrheit gibt s nur in der Mathematik, weil diese ein axiomatisches System ist. Das Leben kennt keine Axiome (oder Dogmen, wer mit diesem Begriff eher vertraut ist). Vielleicht irre ich mich auch. Keine Ahnung.

Das Leben ist eine komische Sache. Wer mich kennt weiß, dass ich generell den menschlichen Zustand  (the human condition) meistens  mit Humor betrachte. Humor und manchmal ein bisschen Verzweiflung. Vielleicht bin ich deshalb leidenschaftlicher Rollenspieler und schreibe. Weil ich diesen inneren Wunsch habe eine Welt zu schaffen, in der alles einen Sinn ergibt, in der jeder Charakter eine schlüssige Hintergrundgeschichte hat und die Menschen nur dann sterben, wenn es die Geschichte erfordert. Und nicht einfach so.
Manchmal schwanke ich zwischen meiner Einschätzung wie viele Akte das Leben eines Menschen hat. Sofern es denn vollständig ausgelebt wird. Sind es nun drei oder vier Akte? Wie ich überhaupt auf den Gedanke komme?
Also, gestern saß ich im Zug. Eigentlich nichts ungewöhnliches werdet ihr jetzt sagen. Aber beim Blick aus dem Fenster war da eine junge Frau auf einem Mofa. Wie alt wird sie gewesen sein? Ich würde mal sagen 16. Auf keinen Fall älter als 18.  Als ich sie sah kam meine Vergangenheit wie eine Welle kalten Wassers über mich und verschlang alles auf dem Weg. Mein bisheriges Leben. Meine Einstellungen. Die Abzweigungen des Pfads die ich genommen hatte. Einfach weg. Hinfort gespült von diese einen Bild. Kennt ihr das vielleicht auch? Ein Geruch, ein Bild, ein Geräusch oder eine Kombination von dem tragen euch in die Vergangenheit zurück? Nein, eigentlich ist es viel mehr. Ihr WERDET wieder zu der Person, die ihr vor 15 oder gar 20 Jahren wart. Man nimmt die Welt dann für einen kurzen Augenblick wieder so wahr wie in jenen Tagen der Jugend (hört ihr auch gerade „Boys of Summer“ von Don Henley im Hintergrund?). Ein seltsames Gefühl aber gleichzeitig unglaublich frei.
Leben bedeutet auch Pfade in die Substanz des Seins zu treten. Was vorher eine jungfräuliche Wiese war ist am Ende eine schlammige Fläche aus der noch ein paar intakte Grashalme ragen. Leben heißt darüber hinaus Brücken hinter sich abzubrechen, Gewissheiten aufzugeben. Die Beschilderung der Kreuzungen hinter uns versinken im Boden und eigentlich kann man nur nach vorne gehen. Der Pfad wird enger. Mit jeder Entscheidung die wir treffen. In jenem Moment im Zug aber sah ich das Gras innerhalb von Sekunden wieder sprießen, aus dem Morast wurde ein Paradies. Verbrannte Brücken erhoben sich majestätisch aus den Fluten der Ewigkeit und ich stand da und staunte wie das Kind, das ich einmal war.  
Wie ist das aber möglich? Wie kann man wieder zu einem Menschen werden, der eigentlich von Rechts wegen unter tausend Entscheidungen längst schon erstickt sein hätte müssen? Eine Erinnerung.
Der Neocortex, der Teil des Gehirns der uns zu dem macht, was wir sind, ist ein riesiges, neuronale Netz. Wie in jedem Netz gibt es Knotenpunkte die über lange Fäden mit anderen Knotenpunkten verbunden sind. Was wir sind, wer wir sind und wie wir sind hängt nicht von einem dieser Knoten ab, sondern davon wie diese  miteinander verbunden sind. Jede dieser Verbindungen hat eine sogenannte Gewichtung. Sie ist entscheidend dafür, ob, wenn Knoten A aktiviert wird, Knoten B ebenfalls anspringt. Ist die Verbindung stark wird das Signal von A nach B laufen. Ist die Verbindung schwach, dann existiert zumindest eine gewisse Chance dazu. Ist die Verbindung aber negativ, dann wird bei jeder Aktivierung von A der Knoten B gehemmt. Dadurch ergeben sich komplizierte Aktivierungsmuster, die wie Wellen durch das Netz rollen.
Diese Muster – das sind wir. Zu einem bestimmten Zeitpunkt. Die Gewichtungen, ja selbst die Verbindungen an sich, sind formbar. Sie können jederzeit verändert werden und tun dies auch recht häufig. Im Laufe unseres Lebens verlieren einige Gewichtungen an Bedeutung, andere werden stärker. Neue Verbindungen werden geschaffen, andere verschwinden. Mein jüngeres Ich entsprach also einem ganz speziellen Aktivierungsmuster. Über die Jahre kam es zu Veränderungen aber irgendwo da drinnen sind die alten Gewichtungen noch. Verändert. Teilweise entkoppelt. Aber es ist noch genug da um dieses alte Ich, dieses spezifische Muster von Erleben, Empfinden, zumindest für Augenblicke aus den Tiefen der Vergessenheit emporzuheben und ich weiß wieder wie es ist 16 zu sein. An einem solchen Moment kann man sich nicht festhalten. Er dauert kurz. Und vergeht wieder. So ist es auch gedacht, schließlich handelt es sich um eine Art Fehlfunktion. Das bin ja eigentlich nicht mehr ich – dafür hat das Leben schon gesorgt.  
Die Akte des Leben hängen eng mit dem neuronalen Netz in uns zusammen. Der Erste ist jener, in dem das Netz neu, jung und ungeprägt daherkommt. Alles ist möglich. Jede Art von Verbindung ist denkbar und das Gehirn formbar wie ein Klumpen Ton. Gleichzeitig sind wir aber auch nicht frei. Es muss ein Vorbild da sein, eine Welt die uns zeigt was es heißt im hier und jetzt Mensch zu sein. Dies sind die ersten 10 bis 13 Lebensjahre. Am Ende dieser Zeit besteht das neuronale Netz in seiner Grundform. Die Pubertät bedeutet noch einmal einen radikalen Umbau dieses Netzes, sie steht am Ende des ersten Aktes. Zu Beginn  des zweiten Akten sind wir zu dem Menschen heran greift, der wir den größten Teil unseres Lebens sein werden. Natürlich entstehen immer noch neue Verbindungen und Gewichtungen, sie verändern sich aber nie mehr in dem Maße wie zur Zeit des ersten Aktes. Man könnte sagen unsere Persönlichkeit verlässt die Zeit der Revolution und tritt ein in das von einer milden Sonne beschienen Zeitalter der Evolution. Das sind die mittleren Lebensjahre, die irgendwann in den 20ern Beginnen und meist bis ins Alter hinein reichen. Im letzten Akt schließlich beginnt der Zerfall des Netzwerkes. Gewichtungen bröckeln wie Sandstein im saueren Regen, Knoten vergehen und Verbindungen flattern lose im Angesicht des grimmigen Schnitters. Es ist eine Zeit die einerseits von einer gewissen Starre geprägt ist. Alte neuronale Netzte neigen dazu unflexibel zu werden, Veränderungen finden an der vierte oder fünften Stelle nach dem Komma statt. Andererseits ist es auch eine Zeit der Erinnerung. Durch den langsamen Zerfall kommen alte Muster wieder hoch, längst vergangene Gefühle, Personen und Orte werden erneut real.
So wäre es mit einem Leben in drei Akte. Im ersten Akt sind wir abhängig aber voller ungeahnter Möglichkeiten. Im zweiten Akt bestimmen wir selbst den Kurs unseres Schiffes aber Entscheidungen aus dem ersten Akt engen uns ein. Wir sind dann schon eine Persönlichkeit und mit jener müssen wir wohl leben. Der dritte Akt ist schließlich der Abschluss einer großen Geschichte. Es sind nicht mehr viele Abzweigungen übrig, die Entscheidungen wurden getroffen und wir erleben die Nachwirkungen jenes Erdbebens, das wir unser Leben nennen.   
Das Leben in vier Akten ist  nur wenig anders. Vor allem der erste Akt ist unterteilt. Zuerst kommt jene Zeit in der wir völlig abhängig sind und es uns meistens nicht stört. Die Kindheit. Eltern und Bezugspersonen sind, wenn alles läuft wie es soll, willkommene und geliebte Lehrmeister in deren Händen wir uns formen lassen. Darauf folgt die Jungend mit der Pubertät. Eine Zeit in der wir langsam die Möglichkeiten des Lebens erkennen. Unabhängigkeit wird wie eine Karotte vor unserer Nase geschwenkt und wir laufen ihr nach. In dieser Zeit spürt man die Abhängigkeit von den Eltern und Bezugspersonen als Ketten die ins Fleisch schneiden. Wir beginnen unser neuronales Netz selbst zu gestalten in dem wir uns der Musik, den Büchern, generell den Einflüssen aussetzen, die wir als richtig erachten. Im dritten Akt sind wir schließlich Erwachsene, stehen mitten im Leben und entdecken, dass wir zwar theoretisch alle Freiheiten haben aber sowohl von innen, durch angelernte Muster als auch von außen, durch Zwänge der Notwendigkeit des Lebens, in gewissem Maße gefangen sind. Ein Formel-1 Auto im Stadtverkehr. Der letzte Akt schließlich ist wiederum der Zerfall.   
Als ich im Zug saß wurde ich wieder in den zweite von vier Akten meines Lebens zurückgeworfen. Ich sah auf mich und erkannte, wie gefangen ich eigentlich bin in jenem Netz, dass sowohl ich selbst als auch andere um mich gewoben haben. Wie herrlich es sein könnte noch einmal dieses Gefühl der grenzenlosen Möglichkeiten zu spüren. Und mich beschlich ein Verräterischer Gedanke: Könnte ich nur wieder 16 sein. Natürlich handelt es sich bei dem Gedanken um absoluten, völligen Blödsinn. Die Welt  mit 16 ist ein komplizierter, gefährlicher, verräterischer Ort. Schule, Freunde, Familie, all jene Zwänge die einen umgeben. Ich persönlich mochte die Schule nie. Lehrer die sich in Allmachtsfantasien ergehen und täglich vor eine Klasse eingeschüchterter Menschen treten um diese ungestraft anzuschreien. Lehrer die Schüler verbal erniedrigen. Prügelnde, einschüchternde Mitschüler. Ein durchgeplanter Tagesablauf aus dem es keinen Ausweg gibt. Finanzielle Abhängigkeit. Dieses Gefühl in eine Form gepresst zu werden die hinten und vorne nicht zu einem passt. Und rundherum eine Welt die offensichtlich nicht verstehen will was eigentlich zählt.
Aus all diesen Gründe möchte ich nicht mehr 16 sein. Aber ich hätte gerne die Gefühlswelt zurück. Alle Emotionen waren so stark, so intensiv und unmittelbar. So viele erste Male. Wenn man älter wird verfängt man sich immer mehr in  diesem Netz. Solange man in den ersten beiden Akten des vieraktigen Lebens steckt hat man immer Meilensteine nach denen man neu anfangen kann. Man arbeitet auf diese neuralgischen Punkte hin und macht sich meistens wenig Gedanke darüber was jenseits davon liegt. Im dritten Akt gibt es diese nicht mehr. Zumindest meistens nicht. Man schaut auf seine Arbeit und stellt fest: Das oder etwas Ähnliches werde ich tun bis ich alt bin.  Eine Tretmühle aus der man nur schwer herauskommt. Finanzielle Einbußen  und soziale Ausgrenzung ist nicht selten die Folge eines Ausstieges.
Um diese Möglichkeiten des Neuanfanges beneide ich mein 16jähriges ich. Nicht aber um die Angst des Versagens. Jetzt sind die Weichen gestellt, ich habe eine Ausbildung, verdiene nicht schlecht und mit jedem Jahr füllt sich mein Lebenslauf mit neuen Errungenschaften. Dieser Lebenslauf bestimmt wofür ich mich bewerben kann und wofür nicht. Das ist einschränkend. Aber er gibt auch Sicherheit. Das HABE ich und niemand kann es mir mehr nehmen. Ein unbeschriebenes Blatt lebt immer unter dem Damoklesschwert des absoluten Versagens. Mit jedem Tag kann man eine falsche Weiche stellen und an einem Geisterbahnhof ankommen. Ein jahrelanges Strampeln gegen den Treibsand bis endlich der letzte große Meilenstein genommen wurde. Einfacher wird es danach freilich auch nicht. Aber irgendwie sicherer.
Heute stehe ich irgendwo in der Mitte des dritten bzw. des zweiten Aktes meines Lebens. Ich schaue mich um und vermisse das Gefühl der Freiheit. Dabei frage ich mich, was aus all den Möglichkeiten geworden ist die ich mit 16 sah. Manche davon habe ich genutzt, andere nicht und viele stellten sich als Irrlichter heraus.
Trotzdem – wirklich wieder 16 sein wollte ich nicht. Zumindest nicht so wie die Welt damals war. Eine Rechtfertigung dafür finde ich jedes Mal wenn ich eines der alten Bücher zur Hand nehme. Nicht wenige davon sind mehr als 20 Jahre alt. Veteranen denen man jedes Jahr ansieht. Als Junge habe ich gerne vorne in meine Bücher was reingeschrieben – damit ich mich erinnere. Zum Beispiel wie meine Haustiere hießen, wie es mir ging, mein Alter und wo ich das Buch gekauft hatte. Ein seltsames Gefühl die kindliche Schrift dieser Zeit vor mir zu sehen. Zu wissen, dass ich es war, der diese Zeichen auf jene Seiten setzte. Und da steht die Botschaft, von mir an mich: „Wenn Du das liest denk daran, auch ich habe Probleme“. Irgendwie gruselig. So als hätte ich mit 11 Jahren schon geahnt, dass ich in Zukunft vielleicht mit rosaroter Brille auf die Vergangenheit blicken würde. Ich glaube das war mir immer schon ein Graus, diese Idealisierung der Kindheit und Jugend die manche Menschen exzessiv betreiben. Würde jetzt ja gerne ein Gespräch mit meinem vergangenen Ich führen. Zu schade, dass der Kerl nicht mehr unter uns weilt. Und trotzdem – die Gefühlswelt von damals war etwas Besonderes. Um heute denselben Zauber noch einmal zu erleben muss man wohl weit gehen.
Aber vielleicht, nur vielleicht ist die Tatsache, dass solche Gedanken in mir hochkommen schon ein gutes Zeichen. Möglicherweise ist die Veränderung gerade mal um die Ecke. Auf jeden Fall ist vieles in Bewegung geraten in den letzten 12 Monaten. Man darf gespannt sein.