Donnerstag, 2. Juni 2011

Das Leben ist 'ne komische Sache

Dieser Text hat das Potenzial deprimierend zu sein, zumindest für bestimmte Personen. Wer etwas Lustiges lesen will ist hier verkehrt und sollte schleunigst die Seite wechseln. Das war eine Warnung.
Wer in diesen Worten die Wahrheit sucht wird wahrscheinlich enttäuscht werden. So etwas wie Wahrheit gibt s nur in der Mathematik, weil diese ein axiomatisches System ist. Das Leben kennt keine Axiome (oder Dogmen, wer mit diesem Begriff eher vertraut ist). Vielleicht irre ich mich auch. Keine Ahnung.

Das Leben ist eine komische Sache. Wer mich kennt weiß, dass ich generell den menschlichen Zustand  (the human condition) meistens  mit Humor betrachte. Humor und manchmal ein bisschen Verzweiflung. Vielleicht bin ich deshalb leidenschaftlicher Rollenspieler und schreibe. Weil ich diesen inneren Wunsch habe eine Welt zu schaffen, in der alles einen Sinn ergibt, in der jeder Charakter eine schlüssige Hintergrundgeschichte hat und die Menschen nur dann sterben, wenn es die Geschichte erfordert. Und nicht einfach so.
Manchmal schwanke ich zwischen meiner Einschätzung wie viele Akte das Leben eines Menschen hat. Sofern es denn vollständig ausgelebt wird. Sind es nun drei oder vier Akte? Wie ich überhaupt auf den Gedanke komme?
Also, gestern saß ich im Zug. Eigentlich nichts ungewöhnliches werdet ihr jetzt sagen. Aber beim Blick aus dem Fenster war da eine junge Frau auf einem Mofa. Wie alt wird sie gewesen sein? Ich würde mal sagen 16. Auf keinen Fall älter als 18.  Als ich sie sah kam meine Vergangenheit wie eine Welle kalten Wassers über mich und verschlang alles auf dem Weg. Mein bisheriges Leben. Meine Einstellungen. Die Abzweigungen des Pfads die ich genommen hatte. Einfach weg. Hinfort gespült von diese einen Bild. Kennt ihr das vielleicht auch? Ein Geruch, ein Bild, ein Geräusch oder eine Kombination von dem tragen euch in die Vergangenheit zurück? Nein, eigentlich ist es viel mehr. Ihr WERDET wieder zu der Person, die ihr vor 15 oder gar 20 Jahren wart. Man nimmt die Welt dann für einen kurzen Augenblick wieder so wahr wie in jenen Tagen der Jugend (hört ihr auch gerade „Boys of Summer“ von Don Henley im Hintergrund?). Ein seltsames Gefühl aber gleichzeitig unglaublich frei.
Leben bedeutet auch Pfade in die Substanz des Seins zu treten. Was vorher eine jungfräuliche Wiese war ist am Ende eine schlammige Fläche aus der noch ein paar intakte Grashalme ragen. Leben heißt darüber hinaus Brücken hinter sich abzubrechen, Gewissheiten aufzugeben. Die Beschilderung der Kreuzungen hinter uns versinken im Boden und eigentlich kann man nur nach vorne gehen. Der Pfad wird enger. Mit jeder Entscheidung die wir treffen. In jenem Moment im Zug aber sah ich das Gras innerhalb von Sekunden wieder sprießen, aus dem Morast wurde ein Paradies. Verbrannte Brücken erhoben sich majestätisch aus den Fluten der Ewigkeit und ich stand da und staunte wie das Kind, das ich einmal war.  
Wie ist das aber möglich? Wie kann man wieder zu einem Menschen werden, der eigentlich von Rechts wegen unter tausend Entscheidungen längst schon erstickt sein hätte müssen? Eine Erinnerung.
Der Neocortex, der Teil des Gehirns der uns zu dem macht, was wir sind, ist ein riesiges, neuronale Netz. Wie in jedem Netz gibt es Knotenpunkte die über lange Fäden mit anderen Knotenpunkten verbunden sind. Was wir sind, wer wir sind und wie wir sind hängt nicht von einem dieser Knoten ab, sondern davon wie diese  miteinander verbunden sind. Jede dieser Verbindungen hat eine sogenannte Gewichtung. Sie ist entscheidend dafür, ob, wenn Knoten A aktiviert wird, Knoten B ebenfalls anspringt. Ist die Verbindung stark wird das Signal von A nach B laufen. Ist die Verbindung schwach, dann existiert zumindest eine gewisse Chance dazu. Ist die Verbindung aber negativ, dann wird bei jeder Aktivierung von A der Knoten B gehemmt. Dadurch ergeben sich komplizierte Aktivierungsmuster, die wie Wellen durch das Netz rollen.
Diese Muster – das sind wir. Zu einem bestimmten Zeitpunkt. Die Gewichtungen, ja selbst die Verbindungen an sich, sind formbar. Sie können jederzeit verändert werden und tun dies auch recht häufig. Im Laufe unseres Lebens verlieren einige Gewichtungen an Bedeutung, andere werden stärker. Neue Verbindungen werden geschaffen, andere verschwinden. Mein jüngeres Ich entsprach also einem ganz speziellen Aktivierungsmuster. Über die Jahre kam es zu Veränderungen aber irgendwo da drinnen sind die alten Gewichtungen noch. Verändert. Teilweise entkoppelt. Aber es ist noch genug da um dieses alte Ich, dieses spezifische Muster von Erleben, Empfinden, zumindest für Augenblicke aus den Tiefen der Vergessenheit emporzuheben und ich weiß wieder wie es ist 16 zu sein. An einem solchen Moment kann man sich nicht festhalten. Er dauert kurz. Und vergeht wieder. So ist es auch gedacht, schließlich handelt es sich um eine Art Fehlfunktion. Das bin ja eigentlich nicht mehr ich – dafür hat das Leben schon gesorgt.  
Die Akte des Leben hängen eng mit dem neuronalen Netz in uns zusammen. Der Erste ist jener, in dem das Netz neu, jung und ungeprägt daherkommt. Alles ist möglich. Jede Art von Verbindung ist denkbar und das Gehirn formbar wie ein Klumpen Ton. Gleichzeitig sind wir aber auch nicht frei. Es muss ein Vorbild da sein, eine Welt die uns zeigt was es heißt im hier und jetzt Mensch zu sein. Dies sind die ersten 10 bis 13 Lebensjahre. Am Ende dieser Zeit besteht das neuronale Netz in seiner Grundform. Die Pubertät bedeutet noch einmal einen radikalen Umbau dieses Netzes, sie steht am Ende des ersten Aktes. Zu Beginn  des zweiten Akten sind wir zu dem Menschen heran greift, der wir den größten Teil unseres Lebens sein werden. Natürlich entstehen immer noch neue Verbindungen und Gewichtungen, sie verändern sich aber nie mehr in dem Maße wie zur Zeit des ersten Aktes. Man könnte sagen unsere Persönlichkeit verlässt die Zeit der Revolution und tritt ein in das von einer milden Sonne beschienen Zeitalter der Evolution. Das sind die mittleren Lebensjahre, die irgendwann in den 20ern Beginnen und meist bis ins Alter hinein reichen. Im letzten Akt schließlich beginnt der Zerfall des Netzwerkes. Gewichtungen bröckeln wie Sandstein im saueren Regen, Knoten vergehen und Verbindungen flattern lose im Angesicht des grimmigen Schnitters. Es ist eine Zeit die einerseits von einer gewissen Starre geprägt ist. Alte neuronale Netzte neigen dazu unflexibel zu werden, Veränderungen finden an der vierte oder fünften Stelle nach dem Komma statt. Andererseits ist es auch eine Zeit der Erinnerung. Durch den langsamen Zerfall kommen alte Muster wieder hoch, längst vergangene Gefühle, Personen und Orte werden erneut real.
So wäre es mit einem Leben in drei Akte. Im ersten Akt sind wir abhängig aber voller ungeahnter Möglichkeiten. Im zweiten Akt bestimmen wir selbst den Kurs unseres Schiffes aber Entscheidungen aus dem ersten Akt engen uns ein. Wir sind dann schon eine Persönlichkeit und mit jener müssen wir wohl leben. Der dritte Akt ist schließlich der Abschluss einer großen Geschichte. Es sind nicht mehr viele Abzweigungen übrig, die Entscheidungen wurden getroffen und wir erleben die Nachwirkungen jenes Erdbebens, das wir unser Leben nennen.   
Das Leben in vier Akten ist  nur wenig anders. Vor allem der erste Akt ist unterteilt. Zuerst kommt jene Zeit in der wir völlig abhängig sind und es uns meistens nicht stört. Die Kindheit. Eltern und Bezugspersonen sind, wenn alles läuft wie es soll, willkommene und geliebte Lehrmeister in deren Händen wir uns formen lassen. Darauf folgt die Jungend mit der Pubertät. Eine Zeit in der wir langsam die Möglichkeiten des Lebens erkennen. Unabhängigkeit wird wie eine Karotte vor unserer Nase geschwenkt und wir laufen ihr nach. In dieser Zeit spürt man die Abhängigkeit von den Eltern und Bezugspersonen als Ketten die ins Fleisch schneiden. Wir beginnen unser neuronales Netz selbst zu gestalten in dem wir uns der Musik, den Büchern, generell den Einflüssen aussetzen, die wir als richtig erachten. Im dritten Akt sind wir schließlich Erwachsene, stehen mitten im Leben und entdecken, dass wir zwar theoretisch alle Freiheiten haben aber sowohl von innen, durch angelernte Muster als auch von außen, durch Zwänge der Notwendigkeit des Lebens, in gewissem Maße gefangen sind. Ein Formel-1 Auto im Stadtverkehr. Der letzte Akt schließlich ist wiederum der Zerfall.   
Als ich im Zug saß wurde ich wieder in den zweite von vier Akten meines Lebens zurückgeworfen. Ich sah auf mich und erkannte, wie gefangen ich eigentlich bin in jenem Netz, dass sowohl ich selbst als auch andere um mich gewoben haben. Wie herrlich es sein könnte noch einmal dieses Gefühl der grenzenlosen Möglichkeiten zu spüren. Und mich beschlich ein Verräterischer Gedanke: Könnte ich nur wieder 16 sein. Natürlich handelt es sich bei dem Gedanken um absoluten, völligen Blödsinn. Die Welt  mit 16 ist ein komplizierter, gefährlicher, verräterischer Ort. Schule, Freunde, Familie, all jene Zwänge die einen umgeben. Ich persönlich mochte die Schule nie. Lehrer die sich in Allmachtsfantasien ergehen und täglich vor eine Klasse eingeschüchterter Menschen treten um diese ungestraft anzuschreien. Lehrer die Schüler verbal erniedrigen. Prügelnde, einschüchternde Mitschüler. Ein durchgeplanter Tagesablauf aus dem es keinen Ausweg gibt. Finanzielle Abhängigkeit. Dieses Gefühl in eine Form gepresst zu werden die hinten und vorne nicht zu einem passt. Und rundherum eine Welt die offensichtlich nicht verstehen will was eigentlich zählt.
Aus all diesen Gründe möchte ich nicht mehr 16 sein. Aber ich hätte gerne die Gefühlswelt zurück. Alle Emotionen waren so stark, so intensiv und unmittelbar. So viele erste Male. Wenn man älter wird verfängt man sich immer mehr in  diesem Netz. Solange man in den ersten beiden Akten des vieraktigen Lebens steckt hat man immer Meilensteine nach denen man neu anfangen kann. Man arbeitet auf diese neuralgischen Punkte hin und macht sich meistens wenig Gedanke darüber was jenseits davon liegt. Im dritten Akt gibt es diese nicht mehr. Zumindest meistens nicht. Man schaut auf seine Arbeit und stellt fest: Das oder etwas Ähnliches werde ich tun bis ich alt bin.  Eine Tretmühle aus der man nur schwer herauskommt. Finanzielle Einbußen  und soziale Ausgrenzung ist nicht selten die Folge eines Ausstieges.
Um diese Möglichkeiten des Neuanfanges beneide ich mein 16jähriges ich. Nicht aber um die Angst des Versagens. Jetzt sind die Weichen gestellt, ich habe eine Ausbildung, verdiene nicht schlecht und mit jedem Jahr füllt sich mein Lebenslauf mit neuen Errungenschaften. Dieser Lebenslauf bestimmt wofür ich mich bewerben kann und wofür nicht. Das ist einschränkend. Aber er gibt auch Sicherheit. Das HABE ich und niemand kann es mir mehr nehmen. Ein unbeschriebenes Blatt lebt immer unter dem Damoklesschwert des absoluten Versagens. Mit jedem Tag kann man eine falsche Weiche stellen und an einem Geisterbahnhof ankommen. Ein jahrelanges Strampeln gegen den Treibsand bis endlich der letzte große Meilenstein genommen wurde. Einfacher wird es danach freilich auch nicht. Aber irgendwie sicherer.
Heute stehe ich irgendwo in der Mitte des dritten bzw. des zweiten Aktes meines Lebens. Ich schaue mich um und vermisse das Gefühl der Freiheit. Dabei frage ich mich, was aus all den Möglichkeiten geworden ist die ich mit 16 sah. Manche davon habe ich genutzt, andere nicht und viele stellten sich als Irrlichter heraus.
Trotzdem – wirklich wieder 16 sein wollte ich nicht. Zumindest nicht so wie die Welt damals war. Eine Rechtfertigung dafür finde ich jedes Mal wenn ich eines der alten Bücher zur Hand nehme. Nicht wenige davon sind mehr als 20 Jahre alt. Veteranen denen man jedes Jahr ansieht. Als Junge habe ich gerne vorne in meine Bücher was reingeschrieben – damit ich mich erinnere. Zum Beispiel wie meine Haustiere hießen, wie es mir ging, mein Alter und wo ich das Buch gekauft hatte. Ein seltsames Gefühl die kindliche Schrift dieser Zeit vor mir zu sehen. Zu wissen, dass ich es war, der diese Zeichen auf jene Seiten setzte. Und da steht die Botschaft, von mir an mich: „Wenn Du das liest denk daran, auch ich habe Probleme“. Irgendwie gruselig. So als hätte ich mit 11 Jahren schon geahnt, dass ich in Zukunft vielleicht mit rosaroter Brille auf die Vergangenheit blicken würde. Ich glaube das war mir immer schon ein Graus, diese Idealisierung der Kindheit und Jugend die manche Menschen exzessiv betreiben. Würde jetzt ja gerne ein Gespräch mit meinem vergangenen Ich führen. Zu schade, dass der Kerl nicht mehr unter uns weilt. Und trotzdem – die Gefühlswelt von damals war etwas Besonderes. Um heute denselben Zauber noch einmal zu erleben muss man wohl weit gehen.
Aber vielleicht, nur vielleicht ist die Tatsache, dass solche Gedanken in mir hochkommen schon ein gutes Zeichen. Möglicherweise ist die Veränderung gerade mal um die Ecke. Auf jeden Fall ist vieles in Bewegung geraten in den letzten 12 Monaten. Man darf gespannt sein.

1 Kommentar:

  1. Wahrheit

    King Arthur: What is the greatest honour, just tell me, Merlin?!
    Welche ist die größte Tugend, sag es mir, Merlin?!

    Merlin (awaking): Truth (, of course).
    Wahrhaftigkeit, das solltest Du wissen.

    With every lie, you will murder a part of the world.
    Mit jeder Lüge wirst Du einen Teil der Welt morden.

    John Boorman: EXCALIBUR

    Angefangen beim Oberpriester Mose bis hin zum großen Zauberer Merlin ist bisher allen "der Himmel auf den Kopf gefallen" (Liquiditätsfalle nach J. M. Keynes), die eine Arbeitsteilung (Zivilisation) auf der Grundlage der Programmierung von Untertanen (religiöse Verblendung) versuchten. Alle großen "Planer, Lenker und Leiter" danach haben gar nichts mehr von der geheimen Staatskunst verstanden und konnten daher nicht wissen, dass die religiöse Verblendung der Vorantike (Programmierung des kollektiv Unbewussten) weiter bestehen blieb; denn erst die Religion (Rückbindung auf den Archetyp Jahwe) machte die Menschheit im wahrsten Sinn des Wortes "wahnsinnig genug" für die Benutzung von Geld - lange bevor diese seitdem grundlegendste zwischenmenschliche Beziehung wissenschaftlich erforscht war.

    Eine Menschheit, die bereits Raumfahrt betreibt, hat etwas im Grunde so Einfaches wie das Geld bis heute nicht verstanden, denn unsere "moderne Zivilisation" ist noch immer auf der Religion aufgebaut, die vom Wahnsinn mit Methode zum Wahnsinn ohne Methode (Cargo-Kult um die Heilige Schrift) mutierte, und die uns - unabhängig vom sogenannten Glauben - alle zu Untertanen machte, die ihr eigenes Programm nicht kennen.

    Die Bewusstwerdung der Programmierung nennt sich "Auferstehung".

    Der Weisheit letzter Schluss: www.deweles.de

    AntwortenLöschen