Sonntag, 26. Juni 2011

Die Zeit heilt alle Wunden

Es ist wieder so weit. Ein neuer Blogeintrag steht bevor und wie immer möchte ich alles Leser ausdrücklich vor dem Inhalt warnen. Das könnte deprimierend und/oder langweilig sein. Im schlimmsten Fall ist der Leser völlig anderer Meinung und mag mich danach nicht mehr (sofern das nicht vorher schon der Fall war). Inhaltlich handelt es sich wie immer um meine persönliche, private Meinung und so weiter und bla. Tippfehler sowie diverse Verbrechen an der deutschen Grammatik sind beabsichtigt und sollen den Leser ermutigen seine eigenen Rechtschreibkenntnisse zu prüfen. 

Die Zeit heilt alle Wunden. Zumindest sagt man das. Ich persönlich liebe ja diese ganzen Familienserien wie Beverly Hills 90210 (die alte Version aus den 90ern, nicht das Neue), The OC (hier auch als OC California bekannt), One Tree Hill und wie sie alle heißen. Auch, weil darin so denkwürdige Sätze wie der vorhin genannte fallen. Manchmal reicht dann so ein One-Liner schon, um mich nachdenklich zu machen. Da bin ich etwas komisch, gebe ich offen zu. In jenen Momenten beginne ich mich zu fragen, wo dieser Satz herkommt, was er bedeutet, wie er sich entwickelt hat und vor allem: Wie viel Wahrheit steckt denn drinnen in so einer „Weisheit“?
Als Wissenschaftler bin ich mit dem kleinen Tierchen namens „Bias“ sehr vertraut. Der Bias ist ein kleines, mit bloßen Augen fast nicht wahrnehmbares Spinnentier, der gemeinen Zecke nicht unähnlich. So wie Bakterien und Viren ist der Bias immer da. Egal was wir tun, wir sind von ihm und seinen Artgenossen umgeben. Wir leben und atmen den Bias quasi täglich. Wissenschaftlich betrachtet ist der Bias eine Wahrnehmungsverzerrung. Wir erwarten ein bestimmtes Ergebnis also bekommen wir es auch. Manchmal hat man das Gefühl der Mensch sei eine Bias-Maschine, immer darauf bedacht möglichst viel zusätzlichen Bias in die Welt zu schmeißen. Aber das ist eine andere Geschichte. Grundsätzlich müssen wir damit leben, dass es diese Verzerrungen gibt, wir strukturieren unser ganzes Leben anhand dieser. Als Wissenschaftler wird man schon früh darauf trainiert den Bias zu erkennen, ihn zu benennen und möglichst an den Rand zu drängen. Eigentlich gemein, der Bias hat nie wirklich eine Chance zu glänzen, er muss sein Dasein sozusagen im Brennpunkt (hach, auch so ein herrlicher Euphemismus) der wissenschaftlichen Gesellschaft verbringen. Dafür tut er aber alles, um denen im Rampenlicht die Party zu vermiesen. Loswerden kann man ihn nicht, zumindest nicht so lange wir noch denkende, fühlende Wesen sind, dazu ist der Bias fiel zu tief in uns verankert.
Warum erwähne ich das alles? Nun, ich denke, dass solche Sprüche wie „Die Zeit heilt, alle Wunden“ auf einem solchen Bias, einer fatalen Wahrnehmungsverzerrung, beruhen. Betrachten wir diese Aussage doch einmal genauer. „Die Zeit heilt alle Wunden“. Ich glaube dem Satz fehlt folgender Anhang: „… außer jene, an denen man zugrunde geht“.
Klingt jetzt etwas hart. Beinahe schon brutal. Oder nicht? Ist aber leider wahr. Wenn die Zeit wirklich alle Wunden heilt, dann dürfte es keine traurigen, verlorenen und unglücklichen Menschen mehr geben auf dieser Welt. Zumindest nicht auf lange Sicht. Aber sie sind da. Überall. Man muss nur genau hinschauen. Tatsächlich macht der Satz an sich die Situation oft noch schlimmer, aber dazu später mehr.
Zuerst die Grundfrage: Wie kann ein solcher Satz entstehen? Ein Satz, der so offensichtlich nicht wahr ist? Im Grunde steht er ja auf Augenhöhe mit dem allseits gefürchteten: „Es wird alles wieder gut!“ Brr, der Satz fühlt sich an wie das Geräusch eines Zahnarztbohrers. Im Grunde sagt er ja auch nichts anderes als: „Ich habe keine Ahnung wie es weiter geht aber mach dir mal keine Sorgen so oder so, wird schon irgendwas passieren!“
Ja, wie nur kann so ein Satz das milde Licht der Welt erblicken? Ich glaube es liegt an einem sehr starken und äußerst beliebten Bias. Sozusagen der Hulk Hogan der Biase (erinnert sich noch wer an Hulk Hogan?).
Nehmen wir folgende hypothetische Situation: Es gibt ein Medikament, welches bei einer potenziell tödlichen Krankheit eine Heilungschance verspricht. Nun wollen wir wissen, ob dieses wirklich heilt. Also wollen wir das prüfen. Aber wie? Na klar, wie gehen rum zu allen Leuten, die das Medikament bekommen haben und fragen, ob es ihnen geholfen hat. ----- Sieht wer das Problem? Alle, die noch in der Lage sind, uns zu antworten, werden wohl mit hoher Wahrscheinlichkeit angeben, dass Ihnen das Medikament geholfen hat (bis auf ein paar Ausnahmen, die wir dann als „Ausreißer“ aus dem Datensatz eliminieren). Sonst wären sie ja tot. Wir stehen also am Ende mit einer Liste da, auf der nur Namen stehen von Leuten, denen das Medikament geholfen hat. Und kein einziger Name, bei dem es nichts gebracht hat. So amüsant-absurd das jetzt auch klingt – Alltagslogik funktioniert genauso. Jene die verstorben sind können ihre Meinung nicht mehr kundtun. Und so ähnlich ist es auch mit der Zeit die alle Wunden heilt. Jeder, der diesen Satz benutzt, hat am eigenen Leib wohl schon erlebt, dass die Zeit dazu imstande ist. Aber was ist mit all den anderen? Mit jenen, deren Wunden die Zeit nicht geheilt hat? Die daran zugrunde gegangen sind? Sie sind stumm, weil sie keine Lobby haben. Aus der Zählung fallen sie einfach raus. Im Prinzip ist der Satz an sich eine nicht widerlegbare Hypothese: Atmest du noch, dann hat er immer noch die Chance wahr zu werden, weil noch Zeit da ist, um deine Wunden zu heilen. In dem Moment, in dem du aufhörst, zu atmen fragt dich keiner mehr.
Man mag jetzt einwerfen, dass es sich hierbei um kein großes Problem handelt. Sicher keines, das es wert wäre kostbaren Speicherplatz im Netz zu vergeuden (ja, auch dieser Blog nimmt Speicherplatz ein, wobei man jetzt über den Wert desselben streiten könnte – solange es ganze Armeen vonseiten gibt, die sich nur dem Vertrieb von süßen Bildschirmhintergründen mit Kätzchen drauf verschrieben haben …). Aber das Problem beginnt dort, wo Menschen aufgrund solcher Sätze nicht mehr die Zuwendung und Hilfe bekommen, die sie eigentlich notwendig hätten. Wie oft denkt man sich „die Zeit wird das schon richten“, wenn uns ein Mensch in psychischer Not begegnet? „Das wird schon wieder“, „geh‘ hab dich nicht so, das geht vorbei“, „Morgen sieht die Welt ganz anders aus“, „die Zeit heilt alle Wunden, wirst schon sehen“ und ähnliche Aussagen geben jenen nicht selten das Gefühl irgendwie „schwach“ zu sein, sie fühlen sich dann unter Druck, dass es ihnen endlich besser geht – denn wenn die Zeit alle Wunden heilt, es mir aber trotzdem nicht besser gehen will, dann muss doch der Fehler irgendwo bei mir liegen, nicht? Und vielleicht werden sie irgendwann so tun, als ginge es besser, nur um diese Sätze nicht mehr hören zu müssen.
So viel dazu. Würde mich über Rückmeldungen freuen!

1 Kommentar:

  1. "Die Zeit heilt alle Wunden". Der nächste, der diesen Satz in den Mund nimmt, bezieht von mir Prügel, nur damit ich danach sagen kann "ist gleich wieder gut" (nein, der Satz stammt nicht aus meiner Gedankenwelt, den habe ich aufgeschnappt).

    Du hast völlig Recht - die Menschen, die diesen Satz, diesen "Trost" der keiner ist, benutzen, haben leicht reden, denn ihnen hat die Zeit geholfen. Menschen sind aber nicht gleich, genau wie keine zwei Wunden gleich sind. Das ebenso logische wie bittere Fazit lautet also, das die Zeit NICHT alle Wunden heilt, nicht bei allen Menschen. Nicht jede Wunde ist heilbar, was aber nicht heißen muss dass diese Wunden dann tödlich sind.
    Jene Menschen, denen die Zeit nicht helfen konnte, ihre Wunden zu heilen, bleiben meist als geplagte Seelen zurück, die zwar immer so tun als ginge es ihnen gut, innerlich aber zerbrochen sind.

    In der heutigen Welt ist kein Platz mehr, um traurig zu sein, keine Zeit mehr um zu zerbrechen, am Boden zu liegen und nicht hochzukommen. Der Mensch MUSS heute funktionieren, tut er das nicht, wird er bestenfalls belächelt. Schlimmstenfalls wird aber noch auf ihm herumgetrampelt. Traurigerweise halten die Leidensgenossen aber nicht zusammen und helfen sich gegenseitig auf die ein oder andere Weise - stattdessen stehen sie in ständigem Konkurrenzkampf. Wem geht es schlechter? Menschliches Leid wird katalogisiert, klassifiziert und pauschalisiert.
    Das wohl einzig schlimmere als der Satz "Die Zeit heilt alle Wunden" ist folgender "Irgendwo auf der Welt ist jemand, dem es noch schlechter geht". Als wüsste man das nicht. Aber was ändert das?

    Am Ende sind all jene Sätze nur Floskeln, weil sich diese Gesellschaft daran gewöhnt hat, zu reden ohne tatsächlich etwas zu sagen. Diese Worte bedeuten nichts. Sie sind dazu gedacht, die Stille zu füllen, die immer dann entsteht, wenn ein Mensch darüber spricht, dass es ihm schlecht geht.

    Die Zeit ist notwendig, damit Wunden heilen können, aber sie heilt sie nicht.

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