Der kleine Wohnwagen stand eines Tages einfach am Rande des Tümpels, unter einer großen Trauerweide. Dort, wo die Frösche in der Nacht laut ins Wasser sprangen und die Libellen anmutig über die grünliche Wasseroberfläche schwebten. Pflanzen und Blätter aller Art hatten hier eine schlammig-brackige Heimat gefunden und das Schilf beherbergte einsame Vögel. Niemand hatte je gesehen, wie der Wohnwagen hierhergekommen war, welcher Wagen ihn gezogen hatte. Alles, was die Menschen wussten war, dass er jetzt hier stand. Ein wahrlich wundersames Gefährt auf vier großen Holzrädern mit dicken, aus Holz gedrechselten Speichen. Der Aufbau über den Rädern glich einer Hütte wie man sie sonst wohl im Wald vermutet hätte, aus Brettern zusammengezimmert, mit blauen Fensterläden und Spitzenvorhängen, die den Blick nach drinnen versperrten. Aus dem kleinen, metallenen Kaminrohr quoll kein Rauch, und hinter den Fenstern brannte kein Licht.
Das kleine Mädchen, Kassandra, drängte sich ängstlich an ihre Freundin, als sie in der Abenddämmerung den Kiesweg durch die Schilflandschaft herunterkamen und den Wohnwagen da stehen sah. Das Gefährt schien einem Märchen entsprungen zu sein. Jedoch einem der düsteren, ursprünglichen, aus einer Zeit, als die Menschen noch wussten, dass Dinge in der Dunkelheit lauern, denen man besser nicht begegnet und manches freundliche Lächeln nur eine Maske zur Verschleierung der Abgründe darunter diente. Kassandra hatte dies nie vergessen und obwohl sie erst acht Jahre alt war, bestand für sie kein Zweifel, dass die Dunkelheit manchmal eben mehr war, als die bloße Abwesenheit von Licht.
Sie hatte den Nachmittag mit ihrer Freundin Letizia auf dem Spielplatz am See verbracht. In der Stadt gab es keine Orte für Kinder mehr, dazu mussten sie hinaus, den Kiesweg hinunter und vorbei an den vielen Tümpeln, Wiesen und Schilfmeeren. Dort, bei den Bootsanlegestellen gab es noch viele einsame Plätze, abgeschirmt von Bäumen mit tief hängenden Ästen, die so gar nichts mehr jenen überzüchteten, hochstämmigen Bäumen der Parks zu tun hatten. Solche Bäume liebte Kassandra. Vielleicht entsprachen sie nicht dem, was die Erwachsenen als „sauber“ und „aufgeräumt“ bezeichneten. Vielleicht lebte wirklich Ungeziefer in jenem struppigen Geäst und möglicherweise krabbelte es den Unachtsamen dann über den Kopf. Aber, bei allem was Kassandra heilig war – das waren noch Bäume. Ehrliche Geschöpfe, die sich nicht dafür entschuldigten, wer oder was sie waren. So sähe die Natur wohl aus, wenn man sie nur ließe.
Also waren die beiden Mädchen am frühen Nachmittag auf der Suche nach einem ruhigen Ort am See gewesen, aber ihre Lieblingsstelle, am Wasser, von der Welt abgeschieden, fanden sie besetzt. Ein junges Paar, ebenfalls auf der Suche nach jener Anonymität, saß schon da und sie waren nicht nett zu den beiden Mädchen gewesen, hatten sie verjagt und Namen zugeworfen, die Kassandra nicht ganz verstand, ihr aber irgendwie unfreundlich erschienen. Schließlich blieb nur mehr der Spielplatz.
Auf den Heimweg hing Kassandra ihren Gedanken nach, als plötzlich der Wohnwagen vor den beiden auftauchte. Letizia lachte und zeigte auf die blauen Fensterläden. Der Wagen sah so aus, als wäre er gebaut, um von Pferden gezogen zu werden. Kassandra jedoch vermochte daran nichts Erheiterndes zu erkennen und noch während sie sich unsicher umblickte, flackerte in einem der Fenster ein unstetes Licht auf.
„Lass uns den anderen Weg nehmen“, flüsterte sie ihrer Freundin zu und ergriff die kleine Hand. Aber Letizia schüttelte den Kopf. Mutig trat sie nach vorne.
„Das schau ich mir genauer an.“
Nach kurzer, erfolgloser Gegenwehr ließ sich Kassandra hinterher ziehen. Nach einigen Schritten sahen sie die Spuren auf dem Wagen. Jene Stellen, an denen der Zahn der Zeit genagt hatte. Der Lack auf dem Holz war keineswegs mehr unversehrt. Vielfach abgeblättert, rissig und spröde zeigte er auch Spuren von Steinschlag und Kratzern, als hätten große Tiere hier und da versucht, einzudringen. Die Holzräder, mit Metall beschlagen, wirkten brüchig und ausgebleicht. Kassandra fragte sich, wie viele Straßen sie wohl gesehen hatten in ihrer Zeit. In Kassandras Geist stiegen Bilder auf. Geschichten, die dieser Wohnwagen erlebt haben mochte. Auf engen Straßen über die Alpen, in einer Zeit als die Menschen angstvoll hinauf zu den Gipfeln blickten. Irgendwo durch einen Wald in Osteuropa reisend, auf den Spuren nach alten Geschichten über Vampire. Wer wusste schon, wo dieser Wagen gewesen sein mochte?
„Ich weiß es“, verkündete eine brüchige, hohe Stimme vom Fenster her. Ruckartig hob Kassandra den Kopf und blickte in das Gesicht der ältesten Frau, die sie je gesehen hatten. Sie trug ein buntes Tuch um den Kopf, gehalten von einem Knoten über ihrem rechten Ohr. Nie hätte Kassandra es für möglich gehalten, so viele Falten in einem einzigen Gesicht versammelt zu haben – zerfurcht wie eine Wüstenlandschaft nach tausend Jahren Dürre. Die Landkarte eines Lebens, dachte Kassandra. Doch so alt das Gesicht wirkte, so jung waren die Augen. Funkelnd blau und scharf sahen sie auf das Mädchen herunter.
„Ich könnte dir neunundneunzig und eine Geschichte über diesen Wagen erzählen. Ich bin eine Wahrsagerin, musst du wissen.“
Letizia wich vom Wagen zurück. Ihr Mut hatte sie verlassen und alles, was sie wollte, war nach Hause zu laufen. Doch Kassandra rührte sich nicht. In ihrem Kopf war kein Platz mehr für die ängstliche Freundin, die sie erst in diese Lage gebracht hatte.
„Willst du nicht hereinkommen?“, fragte die Alte mit einem freundlichen Lächeln, bei dem ihr eine weiße Strähne unter dem Kopftuch herausrutschte und über die Stirn herunter bis auf die Nase fiel.
„Komm Kassandra, lass uns gehen“, rief ihre Freundin dem Mädchen zu. Kassandra schüttelte den Kopf: „Ich muss nach Hause, unsere Eltern erwarten meine Freundin und mich schon.“
Die Besitzerin des Wohnwagens lachte gackernd und zeigte aber ihr gelbes, lückenhaftes Gebiss.
„Das tun sie wohl. Und dennoch war das nicht meine Frage.“ Sie sah zu dem Mädchen hinunter und wiederholte: „Willst du nicht hereinkommen?“
Zögerlich machte Kassandra einen Schritt zur Hinterseite des Wagens, dort wo eine kleine Holztüre mit einem Buntglasfenster oben drüber, ins Innere führte.
„Ich hole meinen Vater“, rief Letizia den beiden hinüber und rannte am Wohnwagen vorbei in die Stadt.
Die Alte verschwand vom Fenster nur, um Sekunden später die Türe des Wohnwagens zu öffnen und Kassandra ihre Hand entgegenzustrecken. Die Frau sah genauso aus, wie Kassandra sie sich vorgestellt hatte. In einem langen, bunten Rock mit wilden, abstrakten Mustern überzogen, und einer weiten Rüschenbluse vom grellsten Rot, das man sich vorstellen konnte.
Kassandra nahm sich ein wenig Zeit ihren Blick durch den Wagen schweifen zu lassen. Langsam glitten ihre Augen über das dunkle Holz, das so aussah, als würde es jeden Moment, von Würmern und Fäulnis zerfressen, zu Sägespänen zerfallen. Wie alt mochte das Gefährt wohl sein? Nicht einmal annähernd konnte Kassandra es erahnen. Überall waren bunte Tücher an den Wänden festgemacht worden, rote, blaue, grüne, gelbe – manche verknotet, andere frei im Wind wehend. Es schien so, als hätte die alte Frau die Hässlichkeit und das Alter des Holzes, aus dem der Wagen bestand, mit den Tüchern überspielen wollen. Kassandra aber fand, dass sie damit nicht viel Glück gehabt hatte, denn nun wirkte er überladen, wild durcheinandergewürfelt und noch viel schlimmer als vorher. Alte Reisekisten mit massiven Metallbeschlägen waren am hinteren Ende des Wagens gestapelt, sie fragte sich, was diese wohl enthalten mochten. Vielleicht seltsame Kugeln, Rollen und Bücher mit Zaubersprüchen oder einfach nur die Kleider der alten Wahrsagerin? Die Kisten waren alle mit schweren Metallschlössern gesichert.
„Komm setz dich“, forderte die Alte sie auf und deutete auf einen kleinen Tisch mit zwei Stühlen. Der, den sie ihrem Gast anbot, war ein einfacher Holzschemel, ohne Rückenlehen oder Sitzpolster. Sie selbst ließ sich jedoch in einem weichen, mit rotem Stoff überzogenen Polstersessel sinken. Dabei funkelten ihre Augen so, als wollte sie das Mädchen auffordern, etwas zu sagen, doch Kassandra schwieg und tat stattdessen einfach wie ihr gesagt.
Der Tisch, der die beiden ungleichen Frauen trennte, war alt und abgenutzt, das Holz hatte dieselbe Färbung angenommen wie die Bretter des Wagens – ein schwärzliches Braun. Über den gesamten Tisch zogen sich Maserungen und Kanäle, die von Holzwürmern zeugten, da und dort prangten Brandflecken und an einigen Stellen war etwas eingeritzt worden. Sinnlose Initialen waren in einer Ecke des Tisches immer wieder eingeritzt worden – vermutlich mit einem scharfen Messer. Kassandra fragte sich, wer das getan hatte. Die Wahrsagerin mit Sicherheit nicht, sie war zu alt für solche Kindereien und sie konnte den Tisch nicht so lange haben, dass sie als junge Frau die Initialen hätte einritzen können.
Kassandra erschrak, als sie plötzlich gewahr wurde, dass die Alte sie musterten und ihrem Blick zu den verewigten Initialen folgte. Die spröden Lippen verzogen sich zu einem rissigen, hintergründigen Lachen.
„Du fragst dich, wer sie eingeritzt hat, nicht wahr? Was vermutest du?“
Kassandra zuckte zusammen, als die Worte der Wahrsagerin wie Peitschenhiebe auf ihre Ohren trafen.
„Ich weiß es nicht,“ stammelte das Mädchen, doch die Alte schüttelte den Kopf: „Nein, ich weiß, dass du sehr wohl viele Möglichkeiten im Kopf hast, wie diese Initialen auf den Tisch gekommen sein könnten – du willst sie mir nur nicht verraten.“
Die Wahrsagerin entspannte sich wieder und fuhr ruhig fort: „Aber das ist gut so, ich habe nicht erwartet, dass du mir deine intimsten Geheimnisse verraten würdest. Aber du denkst sicher, dass diese Initialen hier genau richtig sind, dass es so ist, als müssten auf dem Tisch einer alten Wahrsagerin mysteriöse Initialen eingeritzt sein oder? Das erwartest man doch eigentlich – zumindest wenn man so jung ist wie du, oder?“
Kassandra zauderte, aber der bohrende Blick der Alten traf sie, bohrte sich in ihr Gehirn. Das Mädchen verinnerlichte sich, dass man vor dieser Frau keine Geheimnisse haben konnte. Zögerlich nickte Kassandra und versuchte, dem starren Blick auszuweichen. Mit einer Handbewegung wischte die Wahrsagerin die seltsame Stimmung weg, die sich zwischen den beiden, der alten und der jungen Frau gebildet hatte.
„Du hast recht, es gehört irgendwie zur Stimmung, und ich denke, deshalb sind die Initialen dort, es war einfach richtig also ist es geschehen.“
Die Alte lachte ihr gluckerndes, krächzendes Lachen und tätschelte Kassandras zitternde Hand, während sie das Kind aus ihren kleinen, opalfarbenen Augen belustigt musterte.
„Ich werde dir drei Dinge über deine Zukunft verraten. Was hältst du davon?“
Mit einer Hand zog ihre seltsame Gastgeberin einen Stapel vergilbter Spielkarten unter dem Tisch hervor und legte ihn vor Kassandra hin. Wie selbstverständlich zog sie eine aus dem Stapel. Zuerst sah Kassandra nur die Rückseite, eine mit Sternen bedeckte Dunkelheit, doch dann wurde die Karte aufgedeckt vor ihn hingelegt.
Eine Frau saß da auf einem Hocker, ihre Augen verbunden, zwei Schwerter, nach oben gerichtet, in ihren gekreuzten Armen.
„Was sind das für Karten?“ Fragte Kassandra und betrachtete das vor ihr liegende Bild mit einer Mischung aus Neugierde und Furcht.
„Das Tarot“, erwiderte die Wahrsagerin. „Man kann darin lesen.
Kassandra schüttelte den Kopf, sagte aber nichts. Neben ihren Eltern hatte lange eine Frau gewohnt die aus Kristallkugeln und Karten gelesen hatte. Die Meinung ihrer Eltern zu dem Thema war eindeutig.
„Du glaubst nicht daran, meine Kleine. Stimmt’s?“ Die Stimme der Alten blieb freundlich, jedoch war es keine Frage, sondern eine Feststellung, zu der Kassandra nur nicken konnte.
„Das wirst du aber noch“, fuhr die Kartenlegerin fort. „Eines Tages.“
„Und wie entscheiden Sie, welche Karte gezogen wird?“ Mit kindlicher Neugierde sah Kassandra auf die runzeligen, dünnen Finger der Frau als sie eine neue Karte ziehen wollte. Bei der Frage erstarrten die Finger und zwei blau funkelnde Augen sahen auf das Mädchen herab.
„Ich entscheide gar nichts. Die Karten tun das. Oder was hinter den Karten steht.“
Kassandra begegnete dem Blick und ließ nicht locker. „Und was steht hinter den Karten?“
Diesmal zuckte ihre Gastgeberin nur mit den Schultern: „Alles zu seiner Zeit.“
Schweigend zog sie eine weitere Karte aus dem Stapel. Sie zeigte einen Wanderer bei Nacht. Er war in Rot gekleidet mit einem Holzstab in der Hand. Hinter ihm raue Felsen, ein Fluss, vielleicht auch das Meer. Im Vordergrund standen acht goldene Kelche übereinander gestapelt. Die dritte Karte zeigte einen Fährmann, sechs Schwerter steckten im Holz und seine zwei Fahrgäste, ein Kind und eine in eine Decke gehüllte Frau, sahen auf den Boden des Bootes. Alle drei dem Betrachter abgewandt.
Die vierte Karte zeigte eine Frau, die Hände vor dem Gesicht, aufrecht im Bett sitzen. Hinter ihr an der Wand hingen neun Schwerter, die Bettdecke mit Rosen bestickt.
Schließlich zog die alte Wahrsagerin noch eine letzte Karte. Darauf war ein hagerer Mann abgebildet, in einen schwarzen Mantel gehüllt. Er hatte seinen Arm gehoben und verbarg damit das Gesicht während er mit gesenktem Kopf auf drei umgestoßene Kelche vor sich starrte, hinter ihm zwei aufrecht stehende Kelche.
Kassandra schauderte beim Anblick der verblassten Bilder. Keines davon schien in irgendeiner Weise freundlich, nicht eines schien etwas Positives zu zeigen. Mit ihren faltigen Fingern fuhr die Frau über die fünf Karten vor ihr auf dem alten Tisch.
„Du siehst Dinge, die andere nicht sehen, träumst Träume, die anderen nicht zugänglich sind. Es ist eine Bürde so zu denken wie du. Wie eine Gefangene fühlst du dich, manchmal zerbrochen und so verloren, dass du nicht siehst, was du noch besitzt. Großes wird geschehen.“
Kassandra schüttelte den Kopf, wollte etwas sagen, aber die alte Wahrsagerin schob die Karten übereinander.
„Du wirst jung sterben“, sagte sie plötzlich mit ausdrucklosem Gesicht. Kassandra sprang auf, ihr Herz raste.
„Warte“, rief die Frau und hielt Kassandras Handgelenk. „Setz dich. Du wirst jung sterben, aber mehr als einmal leben. In jedes Leben nimmst du jedoch die Bürde von vorher mit. Erst, wenn du das Gepäck endgültig hinter dir lassen kannst, wird das wirkliche Leben beginnen.“
Kassandra sah ihre Gastgeberin aus großen Augen an. Sie fühlte Hitze durch ihren Körper pulsieren. Und Angst. Doch sie tat, was die Frau ihr befahl und setzte sich wieder.
„Erschrick jetzt nicht“, fuhr die Frau mit sanfter Stimme fort, „du wirst eine lange Reise antreten und dein eigenes Grab sehen.“
Diesmal ließ sich Kassandra nicht zurückhalten, sie entzog sich dem Griff ihrer Gastgeberin und rannte zur Türe.
„Du wirst träumen, wenn die Welt es nicht mehr kann. Vielleicht träumst du ja jetzt schon.“
Kassandra blieb stehen und wandte sich um. Die Alte lächelte.
„Ich habe dir drei Vorhersagen versprochen, dazu will ich stehen. Die Dritte lautet: Du wirst nie alleine sein, selbst in der größten Dunkelheit. Auch, wenn du alles zurücklässt. Und am Ende wirst du das finden, wonach du suchst.“
Kassandra trat unschlüssig von einem Bein auf das andere. „Was soll das bedeuten?“
„Mein Kind, wenn du wirklich wüsstest, was das zu bedeuten hat, dann würde ich jetzt nicht mehr hier sein, sondern schnellstens das Weite suchen. Diese Dinge kann und darf niemand verstehen.“
Für einen kurzen Augenblick umwölkten sich die Augen der Wahrsagerin, als Ahnungen dessen durch ihren Geist wehten, was wäre, wenn Kassandra verstehen würde.
„Wenn du alles verstehen würdest“, fügte die Alte schließlich erklärend hinzu, „dann wärst du vielleicht der gefährlichste Mensch auf der Welt. Du wärst die Trägerin einer Macht jenseits deiner Vorstellungskraft.“
Müde und ausgelaugt ließ sich die Alte wieder in den weichen, bunten Polstersessel zurücksinken und schloss für einige Augenblicke die Lider. Noch niemals, da war sich Kassandra ganz sicher, hat sie einen Menschen mit so vielen und so vielen Falten gesehen wie die alte Wahrsagerin. Jetzt, wo ihr Gesicht entspannt war, waren die Falten noch viel tiefer und auffälliger.
Kassandra wollte etwas entgegnen, aber die Alte brachte sie schnell zum Schweigen: „Ich habe etwas für dich. Das möchte ich dir zeigen.“ Kassandra hielt mit halb geöffnetem Mund inne und sah der Alten zu, wie sie sich schwerfällig aus dem weichen Sessel erhob. Schwulstige, kitschige Kleider in allen Farben des Regenbogens wehten sanft um einen ausgemergelten, alten Körper. An dieser Frau war kein Platz mehr für Fleisch, nur noch Knochen und alte, lederne Haut. Vorsichtig setzte die alte Wahrsagerin einen Fuß vor den anderen, so als hätte sie Angst, bei einer zu schnellen Bewegung ihre Knochen zu brechen. Sie schien den Blick des Mädchens in ihrem Rücken zu spüren, denn nach ein paar müheseligen Schritten sah sie über die Schulter.
„Schäm dich, Mädchen. Man starrt alte Menschen nicht so, denn das Alter ist keine Wahl, sondern ein Fluch, den man tragen muss. Aber jeder Mensch trägt ihn anders – manche mit Würde, andere eben ohne. Ich wage nicht zu sagen, wie ich ihn trage, doch ich hoffe ich mache mir selbst nicht Schande.“
Plötzlich huschte ein jugendhaftes Lächeln über die Lippen der Frau. „Dein Weg ist ein anderer.“
Kassandra blickte beschämt zu Boden.
Schließlich erreichte die Alte eine der großen Truhen und ging mit einem hörbaren Knacken der Gelenke in die Knie. Umständlich fingerte sie in ihren Gewändern umher, bis sie einen alten Eisenschlüssel fand, schob ihn ins Schloss und drehte ihn um. Der mit eisernen Bändern beschlagene Deckel schwang fast von selbst auf – völlig geräuschlos. Aus dem ganzen wertlosen Trödel und Plunder zog sie schließlich ein Buch hervor. Es war alt, abgenutzt und groß. Eine dichte Staubwolke verhüllte ihr Gesicht, als sie einmal über den Einband blies.
„Das habe ich für dich aufbewahrt“, sagte die Frau und reichte es dem Kind mit zitternden Fingern. „Es ist eine Geschichte. Eine wunderbare und zugleich traurige Geschichte. Ein Anfang, eine Mitte und ein Schluss. Stör dich nicht daran, dass das unrealistisch ist.“
Kassandra runzelte die Stirn. „Was soll daran unrealistisch sein?“
Die Alte schüttelte den Kopf. Ein Regen grauer Strähnen ergoss sich von unter dem Kopftuch über ihre Stirn.
„Kein Schluss. Nie ein Schluss. Du wirst verstehen, wenn du älter bist. Jetzt geh. Sonst kommt noch der Vater deiner kleinen Freundin.“
Als Kassandra zur Türe trat, blickte sie sich noch einmal um. Ein seltsames Gefühl bewog sie dazu. So, wie sie manchmal einfach wusste, wenn jemand an sie dachte oder sie beobachtete.
„Ist noch etwas?“, fragte sie, als sie bemerkte, dass die Wahrsagerin sie immer noch anstarrte.
„Vielleicht“, gab diese zu. Durfte sie noch mehr sagen? „Wenn sie dir anbieten zu bleiben... Sag‘ nein, zumindest beim ersten Mal. Es gibt noch viele Straßen, voller Katzen.“
Kassandra trat aus dem Wagen ins Freie, es war dunkel geworden, wie sie überrascht feststellte. Das schwache Leuchten am Horizont zeigte an, dass die Sonne wohl gerade erst untergegangen war und doch zog schon eine beißende Kälte auf, die sich durch ihre Kleidung fraß. Ein Aufflammen am Himmel ließ das Mädchen zusammenzucken. Donner folgte eine Sekunde später. Sie sah nach oben, wo schwarze Wolken den fahlen Glanz der Sterne zu verdecken begannen. Unschlüssig drehte sie sich um, dem Wohnwagen der seltsamen Alten zu. Er stand noch da. Aber wirkte er nicht plötzlich viel älter? War nicht noch mehr Lack abgeblättert und die Speichen der Räder rissiger? Erneut grollte es am Himmel, als würden riesige Steine einen Berg hinunterpoltern. Mit jeder Sekunde wurde die Nacht dunkler, die Wolken dichter und das ferne Leuchten am Horizont schwächer. Sie wollte laufen, nach Hause, weg von hier an einen sicheren Ort. Aber die Stimme der Frau war noch in ihrem Kopf. Sie würde jung sterben. Wie jung? Noch in diesem Jahr? Im nächsten? Vielleicht mit zwölf? Schließlich fasste sich das Mädchen ein Herz und ging zu dem Wagen der Alten zurück. Der Wind des aufziehenden Gewitters rüttelte am Rahmen des Gefährts, ließ die hölzernen Achsen vor Schmerz stöhnen.
Vorsichtig setzte Kassandra einen Fuß auf das vordere Wagenrad und zog sich am schmalen Vorsprung der Fensterbank nach oben. Verstohlen sah sie über den unteren Rand des Fensters in den Wohnwagen hinein. Über dem Kopf der Alten pendelte eine Öllampe, deren unruhiger Schein tanzende Schatten auf die Wände und Tücher warf. Sie schien mit den Karten vor sich zu spielen. Die vergilbten Blätter lagen wild verstreut vor ihr auf dem Tisch. Wie wahllos fasste die Frau in den Haufen und zog eine Karte heraus. Mit einem Grinsen, das Kassandra von der Seite mehr erahnen denn sehen konnte, legte sie diese vor sich hin, so, dass das Mädchen die Abbildung darauf gerade nicht sehen konnte. Mit flinken Fingern beförderte sie noch eine Karte direkt daneben. In diesem Moment hätte Kassandra alles gegeben, um die Karten zu sehen. Eine Sekunde später bereute sie es schon. Als hätte die Wahrsagerin ihren Gedanken gehört, lehnte sich die alte Frau zurück und gab den Blick auf die Karten frei. Die eine Karte zeigte eine Frau auf einem Thron, zwischen zwei Säulen, die eine Schwarz, die andere Weiß. Sie trug lange Gewänder, und als Kassandra die Augen zusammenkniff, um das Gesicht der Abgebildeten besser sehen zu können, glaubte sie sich selbst darin zu sehen. Mit einer kaum merklichen Bewegung ihrer Hand schob die alte Wahrsagerin die zweite Karte darüber. Sie zeigten einen Mann in einer schwarzen Rüstung auf einem weißen Pferd. Doch es war kein Mann, wie Kassandra erschreckt feststellte. Es war ein Skelett. Und zu seinen Füßen lag ein toter König. Eine Frau, ein Kind und ein Geistlicher knieten vor der Erscheinung. Kassandra hatte keinen Zweifel – das war der Tod.
In diesem Moment drehte sich die Wahrsagerin Kassandra zu. Dabei zog sie sich das bunte Tuch vom Kopf und weiße Haare, grell wie Schnee, standen wirr von ihrem alten Kopf ab. Doch die Augen waren es, die Kassandra vor Angst aufschreien ließ. Sie waren nicht mehr blau wie Opale, sondern schwarz wie das Meer bei Nacht. Ohne Pupille. Finstere Abgründe. Vor Schreck und Überraschung verloren Kassandras Finger die Kraft, und das Mädchen fiel rückwärts hinunter auf den weichen, schlammigen Boden der hier die Tümpel und Schilfmeere umgab.
„Kassandra, ist alles in Ordnung mit dir?“
Verwirrt sah das Mädchen sich um, Als ihr Vater, begleitet von Letizia und deren Vater, über die Straße herübergerannt kam. Das Mädchen blieb einfach liegen, bis die starken Hände der Männer sie hochhoben und besorgte Blicke ihren Körper musterten.
„Fehlt dir etwas? Geht es dir gut?“ Die Stimme ihres Vaters überschlug sich fast.
„Ist ok“, sagte Kassandra schließlich. „Die alte Wahrsagerin in dem Wohnwagen hat mich nur erschreckt.“
Ihr Vater sah sich um. Hinüber zum Tümpel, über das Schilf und dann den Kiesweg hinauf.
„Welcher Wohnwagen?“
Kassandra befreite sich aus seinem Griff und wandte sich dem Ort zu, an den sie sich vor Sekunden noch geklammert hatte. Doch da war nichts. Überrascht, verwirrt und immer noch etwas ängstlich sah sich das Mädchen um, begleitet von den sorgenvollen Blicken der Erwachsenen. Alles was sie fand, waren vier Vertiefungen in der feuchten Erde. Dort, wo wohl die Räder des Wagens geruht hatten.
Lange, nachdem Kassandra und ihre Begleiter gegangen waren, saß die alte Frau noch an ihrem Tisch und betrachtete die in den Tisch geschnitzten Initialen. Hätte sie dem Mädchen vielleicht mehr verraten sollen? Unentschlossen fuhr sie die Spuren im Holz nach. Ihr war, als wäre es erst gestern gewesen, dass sie hier gesessen und ihren Gast bei der Arbeit beobachtet hatte. Ja, sie hätte Kassandra mehr erzählen können. Von sich und von der jungen Frau, zu der das Mädchen einmal heranwachsen würde. Vielleicht das nächste Mal. Mit einem lauten Seufzen erhob sie sich. Gerade rechtzeitig. Es klopfte am Wohnwagen. Sie sah durch das Fenster nach draußen. Ein anderer Ort, eine andere Zeit. Sie öffnete die Türe und sah über den Fremden, der dort stand, hinweg. Düstere, kahle Hügel erstrecken sich hier und einem glutroten Himmel. Verdorrte Bäume, versengt zur Farbe von schwarzer Kohle streckten ihre toten Äste in den Himmel und über allem lag der Geruch von Verwesung und Tod.
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