Sonntag, 16. Oktober 2011

Versprechen

Versprechen


Versprich nicht mir eine Niere zu spenden, wenn ich sie brauche
Versprich nicht eine für mich bestimmte Kugel abzufangen
Verspricht nicht für mich zu sterben
Oder zu sterben, wenn ich sterbe
Versprich nicht tausenden Dinge, die du wahrscheinlich nie tun wirst müssen
Versprich mir auch nicht die Ewigkeit, den Himmel oder gar die Sterne
Gibt mir einfach diesen Augenblick
Sei da
Halt mich
Und die Ewigkeit kümmert sich um sich selbst


Der Ort oder Der Kustos meiner Seele

Es ist nicht schlimm, wenn man sich ab und an in einen Traum fallen lässt, eine Welt lebt, die außerhalb des eigenen Kopfes gar nicht existiert. Es fühlt sich an wie aus der Kälte der Welt in ein warmes Zimmer zu kommen, umfangen von liebevollen Armen, sicher eingepackt unter einer weichen Decke. Wer würde sich nicht eine solche Zuflucht wünschen? Zu leben in jenem Moment, in jener Nacht, als der Wind durch die Wipfel der Bäume strich und Eulen irgendwo, weit oben in der Dunkelheit, ihre Klagelaute woben. Das ist mein sicherer Ort. Ein namenloser Wald, von Horizont zu Horizont, ein Tal, in dem die Sonne niemals aufsteigt, in der Nähe einer Stadt die keinen Namen kennt. Dorthin gehe ich zurück wenn es zu viel wird, wenn selbst der Atem in meinen Lungen schmerzt und Hoffnung mehr eine weiterer Schürhaken in meinem Rücken geworden ist. Immer wieder taucht dieser düstere Ort in meinen Gedanken auf. Aber auch in meinen Geschichte. Doch nicht alles dort ist gut und schön. Im Herzen dieser Sphäre öffnet sich ein Spalt tief hinunter in eine Höhle. Die Höhle in diesem fremden Land, das bin ich. Ganz tief in mir drinnen. Ein Mysterium, das sich selber nicht versteht. Voller verwirrender Formen und Figuren. Zusammengerollt, gekrümmt, gebrochen, liegen da die Überreste vergangener Leben, von ungenützten Möglichkeiten und verpassten Ausfahrten. Willenlos und doch willig, kehre ich nach meinen Streifzügen hierher zurück, weil nur an diesem Ort die Transformation möglich ist. Das Abstreifen der alten Haut und die Entstehung der Neuen. Dieser Ort ist so sehr Traum wie auch Realität. Er verfolgt mich. Jeden Tag, jede Minute. Denn an den Wänden wird fein säuberlich Inventur gemacht. Jedes Versagen. Jede Beleidigung. Jedes laute Wort, unbedacht im Zorn gesagt und empfangen. Sie sind alle dort oben, aufgemalt von den Fingern meiner Seele. Hier wird Buch geführt und der Kustos dieser Welt ist kein gütiger Mann. Streng, mit glühenden Augen und schwarzem, wohlfrisiertem Haar, einem ältlichen Schulmeister gleich, sieht er prüfend auf mich herab und geht die endlose Liste meiner Verfehlungen durch. Von den Anfängen meines Lebens und den kindlichen Scherzen, grausam wie nur ein Kind es sein kann, bis zu den Momenten, die ich in den Träumen verbrachte statt mich der Realität zu stellen. Er kennt jede Minute. Er kennt die Reue, die in meinem Herzen wohnt.

Ich bin aus einem Traum erwacht und so sehr ich es mir auch wünsche, in jenen Traum zurück kann ich nicht mehr. Das wird wohl jeder wissen, der selbst schon erwacht ist. Zuckerwatte, Musik und Liebe, sie versinken alle langsam hinter Dir und der Traum bricht am Ufer dieser Welt. Nur Bruchstücke überdauern. Gefühle, Bilder, aufgenommen in der Dunkelheit. Nein, selbst wenn ich wieder einschliefe, diesen Traum würde ich wohl nie wieder zu fassen bekommen. Er ist weg. So wie der Mensch, der ich gestern noch war. Ein schöner Traum. Eingehüllt in eine Decke die zu Schnee wurde während ich schlief. Als Lawine trug er mich talwärts und selbst im freien Fall träumte mir, sanfte Hände trugen mich durch die Luft. Und ich erwachte inmitten der Trümmer meiner selbst. Kalt. Nackt. Frierend. Es war ein Traum so schön, dass ich ihn bereitwillig für die Realität hielt, meine Augen fest vor den Zeichen verschloss die mich zu warnen suchten. Und dort, in den Trümmern liegend, wusste ich, dass noch diese Nacht, der Kustos meiner Seele vor mir stehen würde.  

So schloss sich der Kreis, als ich zurückkehrte in den Wald, in dem so viele meiner Geschichten spielen. Zurück zu meiner Strafe. Doch trotz allem hoffe ich immer noch zu lernen. Einen Weg zu finden den Fehlern der Vergangenheit nicht mehr hilflos gegenüberzustehen. Ich kann nichts mehr tun wegen der Worte vergangener Tage. Was ich getan, ist getan. Es wird für immer an den Wänden der Höhle stehen und mich verfolgen. Aber ich kann versuchen nicht mehr auf denselben Straßen zu gehen. Den Sog, ganz knapp unter der Oberfläche, zu vermeiden.

Sonntag, 18. September 2011

Nacktfahrt - Eine Einleitung

Ich spiele schon seit geraumer Zeit mit dem Gedanken, einen Beat-Roman zu schreiben. Als großer Fan von William Burroughs, Allan Ginsberg, Jack Kerouac und anderen, liegt das irgendwie nahe. Mein Problem ist, dass ich kein Kerouac bin, mein Talent reicht dafür nicht einmal annähernd. Natürlich hält mich das nicht davon ab, einen Versuch in diese Richtung zu unternehmen. Der folgende Text ist ein kleiner Auszug, sozusagen die Einleitung, zu einem umfassenderen Werk, mit dem Titel "Nackfahrt". Was sich jetzt vielleicht etwas "unanständig" anhören mag, hat tatsächlich einen tieferen Sinn - dieser wird sich aber natürlich erst aus dem Werk selbst erschließen. Wie immer möchte ich jeden davor warnen diese Zeilen zu lesen. Zum einen all jene, die unter 16 Jahre alt sind - die Beat-Poeten waren nicht gerade bekannt für ihre dezente Ausdrucksweise. Die Dinge werden beim Namen geannt - wer also unter 16 ist, hat hier eigentlich nichts verloren. All jene, die "saubere" Kurzweile suchen. Dieser Text ist nicht lustig, nicht schön und auch nicht poetisch - er "ist" einfach. Die Leute darin sprechen wie Leute es im wirklichen Leben tun, ohne diesen komischen Hollywood-Filter nach dem alle so zu reden haben wie die typische Werbefamilie morgens um halb acht vor der Schule. Eine besondere Warnung an alle, die meine anderen Werke mögen. "Nacktfahrt" ist ein Experiment, sowohl inhaltlich als auch stilistisch. Als Psychologe würde ich sagen, dass der innere Zensor bei diesem Werk ein wenig häufiger schlafen wird als bei meinen anderen Sachen. Und ich habe auch nicht vor in Zukunft mehr solche Werke zu verfassen. Nacktfahrt ist meine persönliche Hommage an eine Generation von Schriftstellern, die mittlerweile von uns gegangen ist. Auch wenn ich denen nicht das Wasser reichen kann - hier kommt ein Salut an die Jungs, die der Welt die Augen geöffnet haben.     


Ich war nicht immer verrückt. Und selbst wenn, hätte ich es ob des dunklen Herzens in meiner Brust wohl kaum bemerkt.  Auf die Idee es mir zu sagen wäre auch niemand gekommen, ich bin nicht der Typ, den man auf seinen Wahnsinn anspricht. Dazu zelebriere ich ihn zu gerne. Aber das alles macht jetzt ohnehin keinen Unterschied mehr. Nicht, wenn man man, wie ich, in einer dunklen Straße steht, die sich als verdammte Sackgasse entpuppt, irgendwo zwischen stinkenden Müllcontainern aus mit Graffiti besprühtem Stahl und sich lautstark paarenden Katzen. Natürlich ist es Nacht und nicht mal der Mond macht sich die Müde zu leuchten. Typisch. Nur eine flackernde Außenbeleuchtung voller Fliegendreck und die rot-grünen Positionslichter von Flugzeugen weit über mir. Man hat wohl nicht damit gerechnet, dass sie irgendwer hierher verlaufen könnte. Die Wände ragen links und rechts hoch hinauf. Architektonisch völlig unbedeutend. Ein Ort, an dem jene leben, die nirgendwo sonst mehr einen Platz gefunden hätten. Wahrscheinlich die letzte Station auf dem Weg zum Pappkarton hinter dem Schnellimbiss. Ob man mein Lächeln in der Dunkelheit wohl sieht? Stehe ich doch auch hinter einem solchen Schnellimbiss. Sonst würden die Müllcontainer wohl kaum so penetrant nach Essensresten stinken. Bestialisch. Ranziges Fett. Alte Brötchen. Schimmel und billiges Essen. Was nicht in den verdorbenen Mägen irgendwelcher geschmacksverwirrter Zombies landet, endet irgendwo hier. Und vielleicht auch der eine oder andere Gast, dessen Innereien nicht mehr mit dem Abfall fertig wurden. Zumindest die Küchenschaben tanzen vor Freude. Die überleben das. Man sagt ja auch sie würden den Atomkrieg  überstehen. So bin ich also in der Hölle gelandet. Die meisten anderen müssen dafür erst sterben. Aber wie immer gehe ich die Dinge in der falschen Reihenfolge an. Und irgendwie ist das alles sehr passend. Wie ich herumstehe , in meinem letzten paar Hosen. In meinem vorletzten Paar starb Donny und das davor habe ich am Strand verloren. Mein Stoff ist auch alle. Das leere Beutelchen in meiner Hosentasche dient höchstens nur noch dazu, mich an all das zu erinnern, was schief gelaufen ist. Jetzt. Gestern. Vor zwei Wochen. In meinem ganzen beschissenen Leben. Aber ich war nie ein großer Denker, wäre wohl Zeitverschwendung in den letzten Minuten darüber zu grübeln. Die Fahrt ist fast zu ende, würde Donny sagen. Die glitschig feuchte Gasse endet an einer Mauer, direkt an einem Kanaldeckel. Vielleicht wäre die Kanalisation eine Option, aber die Deckel sind zu schwer, ohne entsprechende Gerät kriegt man sie gar nicht auf. Klar hab ich Angst. Wer hat die nicht? Und in meiner Situation sowieso. Drinnen an dem billigen Plastiktisch steht noch mein Milchshake. Donny sagte immer, dass Zucker gegen die Entzugserscheinungen hilft. Keine Ahnung, kam ja nicht dazu einen Schluck zu nehmen, als die anderen zur Türe hereinkamen. So schnell hat mich noch niemand aufspringen und laufen sehen. Wäre ich mal besser in die andere Richtung gelaufen. Diese verdammte Türe zum Hinterhof. Musste ja in einer Sackgasse enden. Und in der Ferne läuten diese verdammten Glocken. Ginge das alles noch ein kleines bisschen melodramatischer? Ist ja nur mein Leben, das gerade in den letzten Zügen liegt. Auf dem Boden wächst Moos und er ist so verdammt glitschig, dass ich auf dem Weg zur Mauer am Ende der Gasse immer wieder ins Schlittern komme. In einem kindische Anfall gleite ich sogar einen Meter weit. Komisch, wie ein schönes Gefühl mit den dazugehörigen Erinnerungen die Wirklichkeit des Hier und Jetzt für den Bruchteil einer Sekunde ausblenden kann. Aber nicht länger. Nie länger. Wieso hier wohl alles Mögliche Zeugs wächst? Wahrscheinlich schüttet der Besitzer das Putzwasser jeden Tag einfach in die Gasse und lässt es den Gulli hinunterrinnen. Herrlich für das glitschige Zeugs, gedeiht in allen Farben. Aber das bringt mich auch nicht weiter. Zumindest nicht weiter als die Wand, die glatter ist als mein Arsch. Man müsste schon ein Spinnenmensch sein um an ihr hochzukommen. Und da sind sie auch schon. Sie treten in die Gasse und mir bleiben noch wenige Augenblicke, gerade so lange wie es für deren Augen dauert, sich an die Dunkelheit hier draußen zu gewöhnen. Übersehen können sie mich ja schlecht. Zumindest stehe ich schon an der Wand. Spart Zeit. Und Zeit ist Geld. Aber so viel wie ich Zieck schulde, wird auch das nicht reichen. Langsam drehen sie sich um zu mir. Alle fünf. Er selbst ist mit ihnen gekommen. Eigentlich ziemlich respektvoll von ihm. Und wieder denke ich bei mir, dass er kein Mensch ist. Nicht so wie er aussieht. Eine verdammte, entstellte Fratze in einem Hugo Boss Anzug, der mehr kostet als der durchschnittliche Wagen in dieser Gegend. Wesentlich mehr als ein Menschenleben wert ist in seiner Welt. Bei der Visage krieg ich immer Bauchkrämpfe. Schwellungen unter der Haut, am Hals, an der Stirn. Verzogene Proportionen und ein irres Funkeln in den Augen, die irgendwie zu klein sind und zu tief in den Höhlen liegen für einen Menschen. Nein, Zieck ist sicher nicht wie Du und ich.


„Daniel, da bist du ja!“
Ziecks Stimme ist wie immer fein, als hätte er Kreide gefressen. Ein perfekter Gentleman. Er könnte dir den Darm durch den Bauchnabel rausreißen und immer noch eine zivilisierte Unterhaltung mit Dir führen. Warum ich das weiß? Weil ich es gesehen habe. Ganz einfach.
„Wir haben dich überall gesucht. Wie kommst du hierher?“
Das ist eine verdammt gute Frage. Aber die Geschichte dahinter ist etwas länger. Und sie beginnt mit einer Fahrt.

Sonntag, 14. August 2011

Die Blauen Schuhe, Teil I

Manchmal sind Geschichten gefährlich. Nicht, weil sie wirklich etwas anrichten könnten (auch wenn manche Geschichten durchaus in der Lage dazu sind) sondern, weil sie die Gefahr bergen, überinterpretiert zu werden. Fast jeder, der nicht schreibt (und viele die schreiben), sind der Meinung, dass jeder Akt des Schreibens eine Art Ausdruck des Innenlebens des Schreibenden wäre. Nichts könnte der Wahrheit ferner liegen. Schreiben ist, selbst in seiner primitivsten, einfachsten Form immer eine Art schöpferischer Akt und hinter jedem Wort den Autor zu suchen, würde weder dem Werk, noch dem Schöpfer gerecht. 
Dies hier ist der erste Teil einer Geschichte, die 3 oder 4 Teile umfassen wird. Woher sie kommt? Keine Ahnung. Die ersten Zeilen schrieb ich allerdings ihm schönen Jahr 1996. Da war ich noch sehr weit von meinem 20. Geburtstag entfernt. Wie kommt also ein Jugendlicher auf die Idee, einen so seltsamen Charakter wie Harold in dieser Geschichte zu entwerfen? Ich weiß es nicht. Irgendwie finde ich den Kerl sogar beunruhigend. Warum schreibe ich gerade jetzt an dieser Idee weiter? Keine Ahnung. Wer von dieser Geschichte tiefere Wahrheiten erwartet, wird enttäuscht werden. Da ist nichts - und wer doch etwas findet kann sich sicher sein, es selber dort hingebracht zu haben. Am Ende sind es auch nur Worte auf Papier. Wer sie trotz allem lesen will, ist herzlich eingeladen. Na ja, vielleicht nicht herzlich, aber halt so irgendwie!  

Mit verträumtem Blick starrte Harold auf den neuen Kalender, während er die heiße Teetasse mit beiden Händen vor der Brust hielt. Im Hintergrund lief dezente klassische Musik, aber von all dem merkte er nichts. Dort wo sein Geist im Moment seine Bahnen zog, spürte er die Hitze der Tasse genauso wenig wie er die Musik vernahm. Nur wenn ab und zu eine Strähne seiner langen Haare in sein Gesicht fiel, hob er kurz die Hand und strich sie hinter seine Ohren zurück und selbst dann blieben seine blauen Augen ausdruckslos und auf den fernen Ort eingestellt, den nur er sehen konnte. Wie ein Schlafwandler führte er die heiße Tasse an seine Lippen und zuckte unvermittelt zusammen. Mit zusammengekniffenen Augen blickte er die Tasse vorwurfsvoll an, geradeso, als wäre sie schuld daran, dass er sich verbrannt hatte und nicht seine Unaufmerksamkeit. Vorsichtig fuhr er sich mit der verbrannten Zunge über seine Lippen, verwundert über die plötzlich eingebrochene Realität und die Intensität der Schmerzen. Irgendwie, dachte er bei sich, war der Schmerz gut, weil er real war, weil er hin spüren, schmecken, erfassen konnte. Er fühlte sich noch desorientiert, doch das war normal, er brauchte immer etwas Zeit, bis er von jenem fernen Ort, zu dem ihn seine Gedanken zu bringen im Stand waren, wieder völlig in seine eigenen vier Wände, in das Haus etwas außerhalb von London zurückgekehrt war. Mit einem lang gezogenen Stöhnen stellte er die Tasse auf den Arbeitstisch, lehnte sich in seinem Holzsessel zurück und blickte sich in seinem Arbeitszimmer um. Links von ihm erblickte er sein Bücherregal, von oben bis unten und bis in die letzte Lücke mit Werken alter Meister angefüllt, die er alle einmal gelesen hatte. Dennoch versetzten sie ihn immer wieder in Abscheu, er verachtete sie, weil er sich selbst verachtete und kein anderes Ventil für seinen Ekel finden konnte. Er hasste sie, weil sie ihm nichts Wirkliches sagen konnten, keine Weisheit zu vermittelt hatten. Keines dieser schlauen Bücher wusste wirklich etwas vom Leben und er verabscheute sich, weil er unfähig war, etwas zu tun, etwas Bedeutendes. Er nahm noch einen tiefen Schluck aus der Tasse und lehnte sich zurück, bis er die weiße Tapete über sich sah. Seit dreißig Jahren sah er nun schon diese Tapete, seit dreißig Jahren tat er nichts, als zu lernen, sich zu bilden. Und was hatte es ihm gebracht? Mit einem grimmigen Lächeln, das wohl niemand als ein solches identifiziert hätte, sog er laut Luft ein und spie sie förmlich wieder aus, doch es half nichts, der Ekel blieb. Wenn er gekonnt hätte, wäre er sofort gegangen, irgendwohin, wenn es nur weit weg von seinem Zimmer und dem Haus war, doch er hatte Angst, fürchtete sich vor dem neuen, dem Unbekannten da draußen und dafür hasste er sich noch mehr. Mit einem mal schien ihm das Zimmer kälter, ein Frösteln packte ihn und ließ ihn die Arme eng um seine Brust schlingen. Er versuchte sich so klein wie möglich zu machen, dennoch schaffte er es nicht sich so klein zu machen, wie er sich fühlte, wie er in diesem Moment gewesen wäre, ein Mikrowesen in einem Mikrokosmos. Doch der Anfall ging vorüber und er stellte sich ans Fenster.
Die Sonne ging unter, sie versank im Meer, tausende von Farben versprühend, wie einen Salut zum Abschied. Aber der Anblick gab ihm Kraft, zwar durchbrach er nicht seine Lethargie, aber zumindest genug um den langen Weg in die Küche anzutreten, dem einzigen Ort, wo er bekommen konnte, was er jetzt am nötigsten brauchte: Etwas für seinen knurrenden Magen.
Unsicher, mit tapsigen Schritten vom langen Sitzen, er hatte fast den ganzen Tag im Zimmer an ein und derselben Stelle auf demselben Stuhl gesessen, betrat er den totenstillen Gang. Er blieb kurz stehen und lauschte, doch nur Stille drang an sein Ohr. Wie er es gewohnt war. Jedes Geräusch wäre wohl Blasphemie gegen die Erhabenheit des Ortes gewesen. Nahezu geräuschlos ging er durch den endlosen Korridor, vorbei an der Türe zum Keller, am Spiegel vorbei, er passierte den Kleiderschrank und ging an der Schuhablage vorbei. Er betrachtete sie alle kaum. Er pflegte nichts zu beachten, das nicht in unmittelbarem Zusammenhang mit ihm stand und das war für ihn sonnenklarerweise im Moment nichts in diesem Gang. Doch als er die Küchentüre öffnen wollte zögerte er, entgegen allen seinen Gewohnheiten, die er sonst nie brach, wandte er sich irritiert um, blickte forschend von einem Punkt zum Anderen. Er kannte alle Dinge, ihre Funktion und Position, Farbe, Form und sogar den Preis. Wusste wo und wann sie gekauft worden waren. Nichts durfte hier fremd sein, nie wurde etwas verändert, er liebte die Beständigkeit, das Bleibende, er konnte ohne es nicht mehr sein, das Chaos war seine wahre Hölle, die einzige, der er sich bewusst war. Und doch, irgendetwas befremdete ihn, ließ ihn innehalten. So sehr er sich auch bemühte die Veränderung zu erfassen, die Wurzel des Übels zu sehen, es gelang ihm nicht, nur das Gefühl war da und seine Angst wuchs von Sekunde zu Sekunde. Panik stieg in ihm auf. Ganz langsam kroch sie vom hintersten Winkel seiner Seele hervor, breitete sich aus und kam heimtückisch wie ein Dieb in der Nacht seinen Hals herauf, schnürte seine Kehle zu. In höchster Not wandte er sich um, bekam die Türklinke zu fassen und drückte sie herunter. Mit letzte Kraft warf er sich nach vorne und schlug die Tür hinter sich zu. Die Augen fest geschlossen, stand er da, gegen die Türe gelehnt, Schweißperlen auf seiner Stirn, das Gesicht zu einer wächsernen Totenmaste erstarrt, leuchtend weiß. Rasselnd kam der Atem durch seine Bronchien, die wie Feuer brannten. Nur langsam kam sein Herz wieder in den gewohnten Rhythmus und gab seinen Lungen Zeit sich zu erholen. Immer noch tanzten bunte Blitze und bizarre Muster vor einen geschlossenen Augen, dennoch wagte er, sie zu öffnen. Hektisch begann er den ganzen Raum nach Abnormitäten, Dingen die er nicht kannte, zu untersuchen. Immer wieder blickte er von einer Ecke in die andere, sondierte Schatten, versuchten das Dunkel unter dem Tisch zu ergründen, aber da war nichts.
Etwas ruhiger, doch lange nicht beruhigt, fuhr er sich mit der Hand über die Stirn und strich die verklebten Strähnen hinter die Ohren zurück. Am großen Fenster neben dem Kühlschrank konnte er den dunklen Garten überblicken. Die Nacht hatten ihn bereits für sich in Anspruch genommen hatte. Oft fragte sich Harold, wie die Welt dort draußen wohl wirklich war, was sie noch zu bieten hatte außer Bibliotheken, Hörsäle, Schulen und Kurse. Natürlich kannte er sie aus Büchern, er hatte sie alle verschlungen, geglaubt die ganze Welt durch Bücher erleben zu können. Danach hatte er sie eingereiht in den endlosen Regalen im Keller, eines nach dem anderen und doch wusste er, dass es mehr dort draußen gab, als ihm alle Bücher der Welt sagen konnten. Doch schienen unendliche Weiten ihn von allem anderen zu trennen.
Verstohlen blickte er sich um, fast so, als könnte jemand seine Gedanken belauschen. Manchmal schämte er sich für sie. Seinen Eltern und vor allem seiner Mutter hätten diese sicher nicht gefallen. Sie hatten ihm alles gegeben und er wusste es nicht zu schätzen. Die Schamesröte schoss ihm ins Gesicht bei dem Gedanken was seine Mutter wohl gesagt hätte, wenn sie ihn so erwischt hätte. Immer wieder erinnerte er sich daran, dass er alles hatte, mehr brauchte er nicht um glücklich zu sein. Beim Gedanken an seine Eltern huschte kurz ein echtes Lächeln über sein Gesicht, nur sehr kurz und dennoch tausendmal länger, als ein anderer Gedanke dies vermocht hätte. Sie hatten ihm ein Haus, ein Vermögen und eine riesige Bibliothek hinterlassen. Zu Lebzeiten hatten sie seine Leidenschaft für Geschriebenes unterstützt und dafür gesorgt, dass er in Ruhe allen seinen Hobbys nachgehen konnte, er hatte sich nie Sorgen machen müssen und brauchte es auch jetzt nicht, doch das Wichtigste war die Liste. Einzigartig und für ihn mehr wert als alles Gold der Erde. Sie war das Vermächtnis seiner Eltern, er liebte und hasste sie zugleich für diese Liste. Sie war eigentlich nicht mehr als fünf gelbe Zettel, die einst lose und nun in einer blauen Mappe, die er an einem Ehrenplatz in seinem Zimmer aufbewahrte, ihren Dienst versahen. Alle waren beidseitig mit der kleinen, etwas abgehackten Schrift seiner Mutter gefüllt, die eigentlich nur er flüssig lesen konnte. All ihre Wünsche, all ihre Ideale und ihre ganze Lebensphilosophie hatte sie auf ihr für ihn hinterlassen und sie diente nur einem Zweck, sie sollte ihm den richtigen Weg zeigen, ihn zu einem anständigen Mann machen, so wie es sein Vater und dessen Vater vor ihm gewesen war. Verklärt blickte er in die undurchdringliche Dunkelheit, die vor seinem Fenster begann und nie zu enden schien. Seine ganzen Sorgen, sogar der Schreck im Flur schrumpfte zu einem kleinen, mikroskopischen Punkt in seiner Seele zusammen. An dessen Stelle trat das alles überstrahlende Licht der Liste. Es füllte seine Seele und schließlich seinen ganzen Körper. Wie ein Panzer legte sich diese Kraft um seinen Körper und schützte ihn vor der Welt dort draußen. Ja, so hatte es seine Mutter vor ihrem Tod formuliert, die Liste war ein Panzer, ein letztes Vermächtnis, bevor sie ihn aus ihrer gütigen Obhut entlassen hatte. Und solange er die Liste hatte, konnte ihm nichts passieren, sie war ein universeller Talisman und gleichzeitig hasste er die Liste. Es war ihm bewusst, dass sich nichts änderte, nie etwas in Bewegung kam, solange er die Liste hatte. Sie war seine persönliche Eisenkugel, mit einer massiven Kette an seine Beine gekettet. Doch so sehr er es auch versuchte, es war ihm unmöglich sie abzuschütteln. Immer wieder erschien das Gesicht seiner sterbenden Mutter und die Liste, wie ein Mahnmal, unendlich groß, ein strafender, unversöhnlicher Gott der Urzeit.
Sein knurrender Magen war es schließlich, der ihn zwang seine düsteren Gedanken vorläufig einzustellen und sich dem zuzuwenden, wegen dem er eigentlich hierhergekommen war: dem Kühlschrank. Es erfüllte ihn immer wieder mit Stolz, wenn er die fein säuberlich angeordneten Plastikbehälter und Schüsseln da in Reihe und Glied auf den gläsernen Ablagen stehen sah. Diese Ordnung war es die das Universum zusammenhielt. Und er war Teil davon, tat das Seine. Diese unscheinbaren Behältern symbolisierten für ihn die perfekte Ordnung. Zusätzlich zu den Aufklebern, auf denen sowohl Inhalt als auch Einfülldatum angegeben waren, zeigte auch die Farbe der einzelnen Behälter den Inhalt an. Diese Ordnung war nun schon seit mehr als zwanzig Jahren beständig, er kannte sie auswendig. Es gab nicht den geringsten Grund von diesem bewährten Konzept abzusehen und dem Chaos Platz zu machen. Schon beim Gedanken an das Chaos spürte er wieder den kalten Luftzug, der ihn zusammenzucken ließ. Unruhig blickte er sich in der ganzen Küche um, in jede Ecke, um das Zentrum zu entdecken. Warum nur blieb die Dunkelheit unter dem Tisch so unergründlich? Schweiß sammelte sich auf seiner Stirn. Doch da war nichts. Ohne lange nachzudenken griff er nach einem flachen roten Behälter im Kühlschrank und schloss diesen wieder. Er war zwar nicht ganz beruhigt, aber das kalte Plastik unter seinen Fingern gab ihm ein Gefühl von Sicherheit. Alte Erinnerungen kamen auf, stiegen wie bunte Luftballons höher und höher. Für ihn waren solche Flashbacks nichts Besonders, im Gegenteil, er ließ sich treiben und genoss die angenehmen Gefühle, die die schlechte Wirklichkeit verdeckten.
Vorsichtig, um nicht den Inhalt zu verschütten, öffnete er die Schüssel und sog tief den scharfen Essiggeruch ein. Er hatte sich nicht getäuscht, Essiggurken. Mit geschlossenen Augen, um ja kein Gefühl zu verpassen, führte er eine Gurke zu seinen Lippen. Kalten Essigtropfen rannen sein Handgelenk hinunter und als er kurz darauf in die Gurke biss spürte er das Zusammenziehen seines Gaumens so intensiv, dass ihm fast schwindelig wurde und er sich am Tisch festhalten musste. Die Erinnerung an seine erste Gurke wurde wach, wie sie geschmeckt hatte und der vom Essig ausgelöste Hustenanfall. Er erinnerte sich an seine letzte Gurke vor zwei Tagen, an die tausend Gurken dazwischen und eine Ahnung der tausend Gurken, die noch kommen würden, kam in ihm hoch.
Einige Zeit später öffnete er seine Augen und sah in das kalte Licht der Glühlampe. Wohlig, wie man es sonst nur bei einer Katze sieht, streckte er sich und gähnte lang gezogen. Beständigkeit war alles in seinem Leben, danach strebte er, danach sehnte er sich. Das Gefühl einer Wiedergeburt erfüllte ihn, die Reinheit war fast in jeder seiner Zellen zu spüren, ja, bis in jedes Chromosom schien sie sich zu erstrecken. Beinahe glaubte er die weiche Hand seiner Mutter zu spüren, wie sie durch sein dichtes Haar fuhr, wie sie es immer zu tun gepflegt hatte, als er noch ein kleines Kind gewesen war. Wie ein Geist schwebte ihre Stimme durch den Raum, nur für die zu vernehmen, für die sie bestimmt war, wie sie Gedichte aufsagte für ihren kleinen Harry. Geschichten von großen Menschen wie Siegfried, Parsifal und ihren Schöpfern. Keiner hatte die Geschichten so erzählen können, wie sie.
Leicht, beinahe heiter erhob er sich und öffnete die Küchentüre. Er hatte das Erlebnis vom Flur schon fast vergessen, hatte es mit guten Erinnerungen zugedeckt, einen Lawine von Erinnerungen losgetreten und das Schlechte einfach verschüttet. Umso gewaltiger war die Flutwelle, die über ihn hinwegging, ihn mit zog und zu verschlingen drohte, eine Welle aus Angst, Panik und Verwirrung. Die Angst war wieder da, traf ihn direkt und eiskalt. Vor Schmerzen wimmernd und unfähig auch nur nach Luft zu schnappen, ging er auf die Knie. Mit zusammengekniffenen Augen versuchte er abermals das Zentrum des Übels auszumachen, doch es gelang ihm nicht. Ein Tränenschleier legte sich über die Welt und verzerrte die Ecken und Kanten, ließ selbst den vertrauten Spiegel wie ein fremdes, bizarres Ding aus einer anderen Dimension, ohne jede erfassbare Geometrie, erscheinen. Verzweifelt versuchte er sich an die Liste zu klammern wie an einen Rettungsring im sturmgepeitschten Ozean, doch es gelang ihm nicht. Immer weiter wurde er in den Strudel aus Chaos hineingezogen. Langsam senkte sich Dunkelheit über seinen Geist, ohne weitere Gegenwehr ergab er sich ihr, irgendwie wünschte er sie sich sogar.
Dann sah er sie. Nur undeutlich, durch den dichten Tränenschleier. Zwei blaue Punkte auf der Schuhablage. Der Anfall war wie weggeblasen. Mühelos sog er tief Luft in sein Innerstes und erhob sich. Wartend, bis er sich die Tränen aus den Augen geblinzelt hatte, fixierte er die Eindringlinge in seine wohl strukturierte Welt. Ohne Zweifel, da standen sie. Chaotisch und fremd schienen sie ihn auszulachen. Blaue Stöckelschuhe. Mitten unter seinen Wanderschuhen. Ekel legte sich über sein Gesicht wie ein transparenter Schleier. Nie hätte seine Mutter solch vulgäre Schuhe angezogen, noch dazu in Neonblau. Vorsichtig, so wie er sich einem gefährlichen, vielleicht sogar giftigen Tier, genähert hätte, trat er an die Schuhe heran und hob sie hoch. Blitzblank leuchteten sie ihm so als wären sie neu gekauft. Mit einem Kopfschütteln sah er sich im Gang um. Nichts ließ auf einen Eindringling schließen. Die Türe war fest verriegelt, die Teppiche keinemn Millimeter verrückt. Ratlos sah er von den Schuhen ins einer Hand hinüber zur Treppe die in die oberen Zimmer des Hauses führte. Vielleicht ein Einbrecher? Aber warum sollte ein Einbrecher blaue Stöckelschuhe tragen und diese dann am Ort der Tat ausziehen. Ein leises Klingeln drang an sein Ohr, doch bevor er die Quelle ausmachen konnte, verstummte das Geräusch wieder. Mit einem Kopfschütteln tat Harold schließlich das einzige wozu er sich im Stande sah. Die Schuhe kamen in die große Kommode, dort wo alles irgendwann endete, was keinen festen Platz in seiner Welt hatte.  Zufrieden mit sich warf er einen letzten Blick auf zurück und ging schließlich in den Keller. Seine Mutter wäre sicher zufrieden gewesen mit seiner Lösung. Sie hatte ihm oft erzählt von seltsamen Begebenheiten, wenn das Chaos versuchte seine Welt in die Klauen zu bekommen. Harold verzog bei der Erinnerung das Gesicht, als hätte er in eine Zitrone gebissen. Doch dann huschte ein kleines Lächeln über sein Gesicht. Heute war wirklich ein guter Tag, soviel stand fest. Wenn er ständig an seine Mutter erinnert wurde, konnte das nur ein gutes Zeichen sein. Diesen Tag musste er sich im Kalender eintragen, als persönlichen Feiertag.
Harold hatte die Schuhe längst vergessen, als er in den nach Öl und Ruß riechenden Keller trat. Wichtiges stand an, er musste in die Bibliothek. Sein Geist verlangte nach neuer Nahrung, die alten Bücher waren längst verzehrt und boten keinen Reiz mehr. Beim Gedanken an das Verlassen des Hauses kamen wieder zwiespältige Gefühle ihm hoch. Einerseits liebte er es, aus dem Haus einmal hinauszukommen, andererseits war ihm bewusst, dass es wieder ein Horror werden würden. Im Grunde fürchtete er sich panisch vor der Möglichkeit, einmal angesprochen zu werden. Hier unten im Keller befanden sich alle wichtigen Dinge, die er nicht sofort bei der Hand haben musste. Das Geschoss war so angelegt, dass man vom Zentralraum, den man bequem mit der Treppe erreichen konnte, zu den sternförmig um diesen herum angelegten Lagerräumen kam. Auf den acht Holztüren war jeweils eine Liste angeheftet. Fein säuberlich aufgeschrieben stand da, welche Dinge dahinter gelagert wurden. Ohne lange nachzudenken öffnete er eine Türe und stand direkt inmitten von rollbaren Kleiderständern. Hier hatte er für jede Gelegenheit die passende Kleidung bereitstehen. Sein Vater hatte diesen Raum seinerzeit entworfen und alles eingebaut. Wenn Harold fern sah bereitete ihm Schmerzen zu sehen, wie andere ihre Kleidung einfach durcheinander in Kästen stapelten, die ohne jedes System einfach irgendwo angebracht waren. Sein Unverständnis und Mitleid mit diesen Menschen kannte keine Grenzen. Wie konnte man sich selber nur zwingen im Chaos zu leben?
Zögernd, fast schon etwas ängstlich, nahm er etwas von einem Haken, mit der er das Haus verlassen konnte. Irgendwie hatte er immer das Gefühl, dass die Geister der Außenwelt auf der Kleidung sitzen mussten, nur darauf wartend, dass er die Türe öffnete. Er wollte von ihnen nicht belästigt werden, kannte er doch ihre Einflüsterungen und deren Wirkung. Man durfte dem nicht erliegen. Seine Auswahl fiel bewusst konservativ aus: ein grauer Anzug, wie ihn tausende von Leuten trugen. Das würde ihm eine gewisse Anonymität verschaffen und verhindern, dass ihn jemand ansprach und er in die Verlegenheit geriet antworten zu müssen.
Mit dem Geruch der Mottenkugeln kam auch eine alte Erinnerung zurück. Sie war so alt, dass er kaum mehr Bilder erkannte. Sie bestand hauptsächlich aus Gefühle - und einer Melodie, ein Rhythmus. Es war ein altes Gedicht, das ihm seine Mutter oft vorzusagen pflegte, als er noch sehr jung gewesen war. Die Worte waren ihm entfallen, aber das war nicht wichtig, was zählte, war das Glücksgefühl, das ihn überkam. Trunken vor Glück und über das ganze Gesicht strahlend nahm er die Kleider und verließ den Keller, um sich im Arbeitszimmer umzuziehen. Gewissenhaft legte er seine Schlafanzug zusammen und hängte ihn über die Stuhllehne. Noch einmal blickte er aus dem Fenster, um ganz sicher zu gehen, dass auch der letzte Sonnenstrahl vergangen war. Sicherlich fragten sich seine Nachbarn, warum man Harold nie zu Gesicht bekam. Was hätten sie wohl dazu gesagt, dass er durchaus nach draußen ging, aber immer nur im Schutze der Dunkelheit? Er tat es, um möglichst wenig Kontakt mit der Außenwelt zu haben. Gerne hätte er diesen Umstand geändert, doch es war ihm nicht möglich die Angewohnheiten von dreißig Jahren einfach zu negieren, es war wie ein Reflex, der ihn unter seiner Kontrolle hatte. Unzählige Male hatte er schon den Mann mit der eisernen Maske gelesen und dessen Leben mit seinem eigenen verglichen und sogar einige Parallelen gefunden. Seine eiserne Maske war zwar unsichtbar, doch diese Tatsache machte sie um kein Jota weniger existent.
Mit allen fünf Fingern griff er in seine Jackentasche und umfasste das kalte Metall darin. Es war die goldene Uhr mit der verschnörkelten Inschrift. Seine Mutter hatte ihm oft die Geschichte erzählt, wie sein Großvater seine Großmutter kennengelernt hatte und sie für ihn diese Uhr anfertigen hatte lassen. Als Zeichen ihrer ewigen und reinen Liebe, als Zeichen des Ewigen. Seine Mutter hatte diese Geschichte geliebt und ihre Begeisterung musste wohl auch auf ihn übergesprungen sein, den sie gehörte für ihn ebenfalls zu den liebsten Geschichten. Voller Stolz erinnerte er sich an den Tag, als sie ihm feierlich übergeben wurde. Seine Eltern hatten ihm erklärt, dass er nun die Tradition weiterführen musste, dass es nun seine Aufgaben war, die Uhr weiterzugeben. Wenn er eines Tages eine Frau fände, die würdig dafür war, bekam ihr gemeinsamer Sohn die Uhr und er würde sie seinen Sohn übergeben, wenn der einmal das richtige Alter erreicht hatte. Ein Symbol für die Perfektheit der Beständigkeit, vom Vater zum Sohn, auf alle Zeiten und das war gut, denn Beständigkeit war gut, ohne sie würde bald nichts mehr so sein wie es einmal war. Chaos zöge ein, seine kleine Welt zu zerstören.
Mindestens fünf Minuten stand er vor der Haustüre und starrte sie an. Sie rief ihn, wollte ihn durch sich hindurch ins Freie ziehen. Und genau deshalb zögerte er. Nichts Gutes kam heraus wenn man sprechenden Türen folge. Alice im Wunderland hatte das auch gelernt, als die durch die sprechende Türe gekrochen war. Chaos und Wahnsinn, die beiden ärgsten Feinde des Verstandes, lauerten im Wunderland. Sie war in eine perverse Welt aus Lügen, Intrigen und schönen Fassaden gekommen und hatte sich nichts sehnlicher gewünscht, als bald wieder nach Hause zu gelangen.
Als er es schließlich doch wagte, machte er es vorsichtig. Zuerst öffnete er die Türe nur einen Spalt weit, gerade so, dass er in die Dunkelheit sehen konnte. Alles war ruhig und dunkel, dieselbe alte Welt wie immer. Niemand wartete um ihn und sein Vorhaben zu stören. Harold atmete auf. Mit einem leichten Gefühl von Unbehagen schlüpfte er durch den Türspalt, schloss sie hinter sich gewissenhaft zweimal ab und verschwand in der Dunkelheit.
Seine goldenen Uhr wurde zum Kompass in Raum und Zeit. Den Fahrplan kannte er auswendig. Schließlich war dieser auch nur ein Buch, dessen Inhalt er sich zu Gemüte geführt hatte und er pflegte ein einmal gelesenen Buches über einen sehr langen Zeitraum nicht mehr zu vergessen. Vielleicht handelte es sich dabei um eine Art Gabe, eine besondere Eigenschaft, die es ihm leicht gemacht hatte, in den Schulen zu glänzen. In dieser Hinsicht kam er sich manchmal wie ein moderner Doktor Faustus vor, gelehrt und doch unwissend, mit Titeln überhäuft und doch weniger als ein voller Mensch, unglücklich und immer auf der Suche nach neuem Wissen, um vielleicht doch noch einmal das zu finden, was er suchte.
Der altehrwürdige Kipfelbau der Bibliothek war im Herzen der Stadt gelegen, dort, wo das Leben nie aufhörte zu pulsieren und die Sterne von den Lichtern der Großstadt kapitulieren mussten. Selbst lange nachdem die Sonne im Meer versunken und von ihren Strahlen nur mehr Erinnerungen geblieben waren, herrschte noch Gedränge und Leben. Wenn hier ein Mensch wirklich verloren und fehl am Platz wirkte, dann war er es. Wahre Massen drückten, schoben und zogen sich durch die Einkaufsstraßen, die jetzt, mitten in der Nacht, heller strahlten als im Licht der natürlichen Sonne. Alle schienen die Sorgen des sterbenden Tages vergessen zu haben, jeder suchte Zerstreuung. Oder was in jenen Tagen als solche galt.
Harold war nicht der einzige, der mit gesenktem Blick und den Händen in den Jackentaschen eiligen Schrittes durch die Massen schwamm. Kaum jemand sah dem Anderen in die Augen und Harold war das nur recht. Zwanghaft bemühte er sich niemandem zu nahe zu kommen. Und doch beneidete er die, denen er auszuweichen versuchte, die er mied. Sie hatten die freie Wahl des Weges, sie konnten überall hin oder auch nirgends, wenn sie nur wollten. Jedoch sein Weg war fest vorgegeben, selbst wenn er gewollt hätte, wäre es ihm unmöglich gewesen den Pfad zu ändern, ebenso hätte ein Zug versuchen können seine Schienen zu verlassen. Manchmal kam es ihm vor, wie die Parabel mit dem Frosch und dem Skorpion. Nur, dass er der Skorpion war und sein Leben der Frosch. Beim Gehen rutschte ihm immer wieder eine Strähne hinter den Ohren hervor und ins Gesicht, aber er versuchte sie erst gar nicht zurückzustreichen, nein, er wollte sie sogar dort wo sie fielen. Irgendwie hatte er die Vorstellung, wenn er die Leute nicht sehen konnten, sahen sie ihn auch nicht und das gab ihm ein gewisses Gefühl von Sicherheit, es stellte ihn über sie.
Ein erleichterter Seufzer entrang sich seiner Kehle, als er endlich die große Treppe zur Bibliothek erreichte. An ihrem Ende wartete eine majestätische Eichenholztüre. Von der Zeit beinahe schwarz geworden und über und über mit wertvollen Schnitzereien bedeckt, stellte sie für ihn  das Tor in eine andere, bessere Welt dar. So mochte es wohl sein, wenn religiöse Menschen an die Himmelspforte dachten, mutmaßte Harold. Schwatzende Fremde kamen herausgestürmt und machten es Harold unmöglich seinen Weg die Treppe hinaus zu gehen. Des Alibis zuliebe wandte er sich den Schaufenstern zu und tat so, als würde er angestrengt Bücher betrachten, während er in Wahrheit nur wartete, bis niemand mehr durch die Türe kam. Schon alleine die Vorstellung, angerempelt oder sogar angesprochen zu werden, ließ ihn in Schweiß ausbrechen. Es war nicht so sehr der menschliche Kontakt, der ihn ängstigte. Er konnte mit Menschen sprechen, das war nicht das Problem. Viel mehr die Situation ließ ihn unsicher werden, Hier draußen, ungeschützt.
Sobald der Weg frei war, schlüpfte Harold schnell durch die Türe und trat ein in sein Reich. Ein Luftschloss aus altem Wissen und stockfleckigen Folianten, genauso wie er es mochte.
Freudig blickte er sich um in einer Welt, die so ganz anderes war wie die überfüllte Neonstadt draußen, wo Menschen gehetzt umher irrten und glaubten, sich zu zerstreuen. Er liebte den unverwechselbaren Geruch von alten Büchern, den frisch gestrichenen Gittern an der Brüstung des oberen Stocks und der Desinfektionsmittel, mit denen der Boden gereinigt wurde. Die Bibliothek hatte schon sehr lange bestand, länger als vieles andere. Sie hatte viele Großväter kommen und gehen sehen und sofern kein Unglück ihrer Existenz ein Ende bereitete, lag noch eine lange Zukunft vor den Gemäuern. Damit wurde sie zu einem Symbol für ihn, ein Symbol für das Gute, Bleibende. Sie übertraf sogar die Uhr seines Großvaters an Jahren. Außerdem liebte er diesen Ort wegen der Stille. In den alten Hallen schien das Leben einfach langsamer zu gehen, als hätte sogar die Zeit Ehrfurcht vor dem gesammelten Wissen. Nur wenige hielten sich um diese Zeit noch hier auf und wenn, dann verhielten sie sich ruhig. Wie Harold kamen sie hierher um zu lesen und zu schweigen. Von ihnen hatte er nichts zu befürchten. Und dann war da noch die Bibliothekarin, Debbie Ruther, eine Dame, in etwa in seinem Alter. Schon seine Mutter hatte sie immer für ein durch und durch anständiges Mädchen gehalten, eine angemessene Gesprächspartnerin. In gewisser Weise mochte Harold sie, aber wahrscheinlich nicht so sehr, wie es seine Mutter gerne gehabt hätte. Das tat ihm unendlich leid, ließ sich aber nicht ändern. Als er an Debbie vorbeiging, grüßte sie ihn freundlich. Obwohl sie als Antwort nicht mehr als ein tiefes Brummer erhielt und er sich nicht einmal die Zeit nahm sie anzusehen, wandte sie sich wieder zufrieden ihrer unterbrochenen Arbeit zu. Wer Harold kannte, wusste ihn einzuschätzen und für seine Verhältnisse, war diese Begrüßung geradezu überschwänglich gewesen.
Zielstrebig wandte er sich dem riesigen Regal für englische Klassiker zu. Eines seiner aktuellen Ziele war, sie alle zu lesen. Im Moment bezog sich das konkret auf die Werke Shakespeares. Am liebsten hätte er vor Freude aufgeschrien, als er feststellte, dass die Sammlung komplett war. Eine bemerkenswerte Tatsache, gab es doch durchaus Vandalen, die Bücher mehrere Monate nicht mehr retournierten und ihn damit auf unbestimmte Zeit von seinen Zielen abhielten.
Mit einem Gesichtsausdruck einer jungen Katze, der man gerade eine ganze Schale Milch kredenzt hatte, nahm er ein Buch nach dem anderen aus dem Regal, summte dabei sogar eine alte Melodie.
Doch seine Welt wurde schlagartig auf den Kopf gestellt, als sich eine weiße Hand auf seine linke Schulter legte. Wie von der Tarantel gestochen, zuckte er zusammen und ließ seine Bücher fallen. Kreidebleich wandte er sich um. Unendlich langsam, wie in Zeitlupe, sah er zuerst ein blaues Kleid, dann das braune Haare und schließlich das ganze Mädchen. Mit weit aufgerissenen Augen begutachtete er sie ungläubig von oben bis unten. Braune Augen sahen ihn erschrocken an. Auf dem ebenmäßigen Gesicht mit den Grübchen um den Mund, lag eine Frage. Entschuldigend zuckte Harold mit den Schultern und bückte sie um die Bücher vom Boden aufzuheben.
„Sie haben mich erschreckt“, murmelte er, weil es ihm angemessen schien.
Das Gesicht des Mädchens, ja sie war wohl wirklich noch ein Mädchen, sicher nicht älter als Anfang Zwanzig, erstrahlte ein freundliches Lächeln.
Zuerst sah er hoch in ihr Gesicht, dann hinunter auf ihre Schuhe. Sie irritierten Harold. Es waren alte, ausgetretene Adidas Turnschuhe. Zum Gesamtbild passten diese nicht, denn alles andere an ihr ließ sie erscheinen, wie eines jener Mädchen, die sich um diese Zeit in diversen Nachtlokalen vergnügten. Als ihm schließlich bewusst wurde, dass er sie so intensiv anstarrte, dass sie es bemerkt haben musste, erhob er sich mit einem Räuspern und stellte die Bücher auf dem Regal ab. Aus den Augenwinkeln versuchte er in ihrem Gesicht Anzeichen von Geringschätzung, Empörung oder Ekel zu finden, konnte aber nur ihr strahlendes Lächeln sehen, das so ehrlich schien, dass er sich noch schlechter fühlte. Es kostete ihn höchste Anstrengung die Kontrolle zu behalten, nicht einfach wegzulaufen. Hitze stieg in ihm auf, von den Beinen her, unbarmherzig auf seinen  Kopf zu Harold brauchte keinen Spiegel um zu wissen, dass er rot geworden war. Mit einem freundlichen Räuspern holte das Mädchen ihn in die Wirklichkeit zurück.
„Entschuldigen sie bitte, aber ich wollte sie nicht erschrecken. Ich habe da ein kleines Problem, ich kenne mich hier nicht aus und Computer zur Orientierung scheint es nicht zu geben. Vielleicht könne sie mir helfen?“ Sie ließ den Satz irgendwo in die Ewigkeit verwehen und sah ihn dabei flehend an. Harold nickte noch bevor er überhaupt wusste, was er da tat. Entzückt lächelte die junge Frau ihn an.
„Das ist toll. Sie sind der Erste hier, der mir helfen kann. Die Bibliothekarin und ihre Gehilfen scheinen immer etwas Wichtigeres zu tun zu haben.“ Mit dem leichten Schritt einer Tänzerin trat sie näher an ihn und reichte ihm die Hand. „Ich bin übrigens Sylvia, wie heißen sie?“
Er blickte kurz ihre ausgestreckte Hand an und machte eine abweisende Geste. „Ist schon in Ordnung, ich bin Harold, was für ein Problem haben sie denn?“ Für einen kurzen Augenblick runzelte das Mädchen ihre Stirn, zog aber schließlich ihre Hand wortlos zurück.
„Das ist so, ich finde Mussejev nicht,“ begann sie mit unsicherem Lächeln, „ich brauche einige Bücher von ihm für meine Klausurarbeit an der Uni, aber mit den Listen an den Regalen kenne ich mich nicht aus ...“
Er blickte sie kurz forschend an. Offensichtlich gehörte sie schon zu jener Generation, die ohne Computer nichts mehr finden konnte. Natürlich hatte er mit Debbie über Computer gesprochen. Der Ausschuss besaß durchaus die Mittel für moderne Geräte, beharrte allerdings auf dem Standpunkt, dass solche Apparate die Atmosphäre stören würden und die Karteikarten samt Listen eine altehrwürdige Tradition waren. Harold schloss sich dieser Meinung von ganzem Herzen an. Abgesehen davon hatte sich das Listensystem schon lange bewährt. Sie hatten schon lange hier gehangen, noch vor irgendwem die Idee eines Computer gekommen war. Noch etwas mit Bestand, etwas Bleibendes. Harold war nicht dumm, er wusste vieles über Computer und gezwungenermaßen hatte er sie auch schon verwendet, aber sie blieben Teil des Chaos welches er verabscheute.
Erschreckt registrierte Harold, dass sein Schweigen schon länger andauerte als es eigentlich als höflich galt. Entgegen all seine Gewohnheiten blickte er Sylvia direkt ins Gesicht und versuchte so freundlich wie möglich zu wirken.
„Ich kenne mich hier aus, allerdings sind sie hier vollkommen falsch. Wenn sie mir folgen wollen. Die gesuchten Werke sind dort drüben aufgestellt.“
Er deutete in den Wald aus Bücherregalen hinein. Ohne auch nur ein weiteres überflüssiges Wort zu verschwenden, wandte er sich um und marschierte los. Er brauchte sich nicht umzusehen um zu wissen, dass sie knapp hinter ihm ging. Die Gummisohlen ihrer Turnschuhe quietschten und klatschten laut auf dem harten Marmorboden. Blicke wurden ihnen zugeworfen. Harold begegnete ihnen mit einem entschuldigenden Schulterzucken.
Die untere Ebene der Bibliothek war riesig, sehr viel größer als sie von außen schien und für einen Unkundigen, wie Harold Fremde gerne nannte, sehr unübersichtlich. Die einzelnen Sektionen grenzten weder alphabetisch noch chronologisch und schon gar nicht thematisch, aneinander. Das System selbst verstanden nur wenige. So zog sich ihr Weg dahin. Führte mal links, mal rechts an einem der großen Kästen vorbei. Über kleine Treppenabsätze und über gewundene Wege. Uso näher sie kamen, desto weniger Besucher kreuzten ihren Weg. Die russischen Klassiker waren wohl nicht mehr so hoch im Kurs, wie Harold vermutete. Er nutze die Zeit um über das Mädchen nachzudenken. Irgendwo in seinem Hinterkopf glaubte er die mahnende Stimme seiner Mutter zu hören. Seine Gefühle waren ambivalent, einerseits konnte er sich keine Gefahr vorstellen, die von diesem Mädchen ausgehen sollte, andererseits brauchte er aber nicht die Stimme seiner Mutter um zu spüren, dass hier etwas faul war – noch nie war er um Hilfe gebeten worden und selbst wenn – nicht einmal in seinen kühnsten Träumen hätte er gedacht, dass er darauf eingehen würde.
Hinter ihm gesellte sich zu dem matschenden Geräusch der Turnschuhe noch ein angestrengtes Keuchen. Offensichtlich gehörte die junge Frau nicht zu der Sorte Menschen, die ihre Freizeit in Bibliotheken zu verbringen pflegten. Harold lächelte, gerade hatte er sie noch als Mädchen bezeichnet und kaum wusste er, dass sie Studentin war, bezeichnete er sie im Geiste als junge Frau – wie schnell sich die Dinge ändern konnten und dieser Gedanke machte ihm wieder etwas Angst. Er verringerte die Geschwindigkeit, was sie mit einem erleichterten Seufzer quittierte.
Gerade zur rechten Zeit erreichten sie die große Kuppelhalle mit dem alten Fresko an der Decke. Hunderttausende von Büchern hatten hier eine Heimat gefunden. Harold nur einen verschwindend kleinen Prozentsatz von diesen und so sehr er sich auch bemühte, daran würde sich wahrscheinlich nichts ändern. Mussejev hingegen war ihm ein Begriff. Im Vorbeigehen entdeckte er ein neues, kleines Regal mit Werken, die er bisher noch nie gesehen hatte. Neugierig geworden verlangsamte er seine Schritte noch etwas mehr und las den Autor und den Titel eines der Bücher: „Seymore Capeman, Nachts sind alle Katzen grau“. Harold nickte zustimmend, da hatte Seymore seiner Meinung nach vollkommen recht. Die ganze Welt war in eine ewige Nacht gehüllt, in der es schwer war, die weißen Katzen von den Schwarzen zu unterscheiden.
Vor einem riesigen in die Steinwand des Kuppelbaus eingelassenes Regal, hielt er inne und wandte sich um. Halb hoffte er, halb fürchtete er, dass sie nicht mehr da sein würde, dass sie einfach irgendwo abgebogen war, seiner Gesellschaft überdrüssig. Doch da stand Sylvia, die Wangen etwas gerötet, lächelnd. Etwas an ihr kam ihm auf schreckliche Weise bekannt vor aber die Antwort entzog sich ihm. Mühevoll zwang er sich das beste Lächeln auf, das er unter diesen Umständen zustande brachte und wies auf das Regal vor ihnen.
„Hier sind wir, die gesammelten Werke der russischen Klassiker. Die Bücher, die sie suchen, sind ganz unten links. Meine Bücher liegen wahrscheinlich noch vor dem Regal in der anderen Abteilung, ich muss wieder dorthin, bevor sich jemand über mich beschwert.“
Mit einer gemurmelten Verabschiedung wollte Harold sich endgültig dieser Fremden entziehen aber all seine Hoffnungen zerstoben wie Spreu im Wind, als sich die weiße Hand auf seine linke Schulter legte. Für einen kurzen Moment zog er die Möglichkeit in Betracht, sie einfach abzuschütteln und loszurennen, durch den Ausgang zu flüchten und nach Hause zu gehen. Es gab noch viele Tage an denen er die Bibliothek besuchen konnte. Doch statt dem Impuls nachzugeben, zwang er sich zur Ruhe, so wie es seine Mutter ihm immer gelehrt hatte. Fragend, mit einer hochgezogenen Augenbraue, blickte er ihr ins Gesicht.
„Ist noch etwas?“
Sie nickte verlegen.
„Ja, ich habe keine Ahnung mehr wo wir langgegangen sind, ich werde mich hinten und vorne nicht auskennen. Bitte bleiben sie, ich brauche ihre Hilfe. Sonst verlaufe ich mich noch und würde den grausamen Tod des Verhungerns erleiden. Helfen sie mir.“
Mühsam zwang er sich zu einem gekünstelten Lächeln über ihren platten Scherz, aber der Kern ihrer Bitte wirkte aufrichtig. Er wollte zwar einfach mit dem Kopf schütteln und gehen, konnte es aber nicht. Wann genau hatte er die Kontrolle verloren? Zwei Faktoren waren daran schuld. Erstens sah er die echte Verzweiflung in ihren Augen. In diesem Augenblick verflogen alle Zweifel an ihrer Geschichte, er war bereit ihr Vorurteilslos zu glauben und zweitens mochte er sie. Obwohl er es sich nicht eingestehen wollte, war sie ihm richtiggehend sympathisch, trotz aller Zweifel die er gehabt hatte. Er glaubte seinen Ohren nicht zu trauen, als er sich sagen hörte:
„Aber natürlich, ich stehe ihnen voll und ganz zur Verfügung.“
Aber noch viel schlimmer war, dass sie ihm einen schnellen Kuss auf die Backe gab, bevor sie sich über die Bücher im Regal hermachte. Er spürte, dass er sich auf einem sehr, sehr tiefen Gewässer mit einer sehr, sehr dünnen Eisschicht befand. Und er bezweifelte, dass das Eis ihn tragen würde. Es konnte jeden Moment brechen und ihn verschlingen, dennoch sprang er auf und ab wie ein Verrückter. Die einzige plausible Erklärung war, dass er den Verstand verlor und zwar mit einer beängstigenden Geschwindigkeit die sogar seinen Onkel Clive vor Neid erblassen lassen hätte. Armer Onkel Clive, der dem Wahnsinn anheimgefallen war. Harold fühlte sich in einem Traum. Ein bunter, niemals endender Traum.
Über drei Stunden vergingen. In jener Zeit wich ihm die junge Frau nicht von der Seite. Er bewunderte ihr blaues Kleid und plauderte über Mussejev, sein Schaffen und der Bezug zu anderen russischen Literaten der Epoche. Ihr Wissen verblüffte ihn und zog ihn an. Ja, er fand sie anziehend, ein Gefühl, das er noch nicht einmal für die Bibliothekarin empfand und die kannte er schon seit seiner frühesten Kindheit. Dies alles verwirrte ihn über alle Maßen, aber es eine gute Art von Verwirrung. Er konnte nicht sagen warum, aber zum ersten Mal in seinem Leben war er richtig glücklich. So überraschend und neu es für ihn war, tat es gut mit jemandem zu sprechen, jemandem der ihn verstand. Und er redete viel, wahrscheinlich mehr, als in den letzten dreißig Jahren zusammen. Als er die Bibliothek verließ, tat er dies ohne ein Gefühl der Melancholie, Die Bibliothekarin ließ vor Schreck einen ganzen Bücherstapel krachend auf den Marmorboden fallen, was die umstehenden Leser mit einem allgemeinen, unfreundlichen Raunen beantworteten, als er an ihr vorbeiging, sie anblickte und mit einem Lächeln grüßte.
Harold hatte sich mit seiner neuen Bekannten verabredet. Wie war das geschehen. Er wusste es nicht genau. Die Erinnerung blieb verwaschen und irgendwie wenig greifbar. Alles war so passiert, im Fluss. Noch dazu wollten sie sich an einem öffentlichen Platz treffen. Der einzige Punkt in dem er sich durchsetzen hatte können war die Uhrzeit. Sie würden sich knapp vor Mitternacht treffen.
Mit einem warmen Gefühl im Herzen, stieg er in den Bus ein und setzte sich neben eine junge Frau mit einem Baby im Arm. Freundlich lächeln deutete er auf das Kind: „Schönes Baby.“ Die Frau errötete.
Herold kehrte in sein Haus zurück. Das Gebäude erwartete ihn in völliger Dunkelheit. Still. Düster. Wie immer. Kaum hatte er den düsteren Torbogen  passiert, fiel der ernste Blick der Marmorengel auf ihn. Dort oben, wo sie ewige Wache hielt, entging ihnen nichts und sie sahen gestreng auf den Menschen hinunter.
All die negativen Gedanken flossen zurück, als wären sie wie das Wasser vor der Ebbe zurückgewichen, nur um bei Flut wieder auf ihn einzustürzen. Gespenstern gleich hatten sie auf ihn gewartet. Hier begann das Reich der Ordnung, das Reich der Liste. Im Haus nahm er sich nicht einmal mehr die Zeit einen Happen zu essen. Ohne Umschweife machte er sich auf in sein Zimmer, vorbei an all den Türen und den perfekt ausgerichteten Teppichen.
Mit düsterer Miene legte er sich in sein Bett. Hatte er sich etwa von dieser Frau um den Finger wickeln lassen? War er schon so einsam und allein, dass die einfachsten der weiblichen Waffen ihn außer Gefecht setzen konnten? Harold lachte kurz auf. Übelkeit kroch in ihm hoch. Der Tag war so chaotisch gewesen, das konnte nur schlecht sein. Krampfhaft schloss er die Augen und deckte sich zu, wie es ihm seine Mutter immer gesagt hatte. Die Zehen und das Kinn mussten unter der Decke sein. Der Schlaf kam schnell und unerwartet. Im einen Moment dachte er noch mit einem Lächeln auf den Lippen an seine Mutter und wie sie ihm gezeigt hatte, ein gutes Leben zu führen und im nächsten Moment war er schon im Reich der Träume.
Der Schlaf wischte ihm auch das Lachen aus seinem Gesicht, zurück blieb nur eine Fratze des Schreckens. Seine Träume waren chaotisch und dunkel, voller Symbole, die er nicht verstand. Eigentlich war es nur eine Traum, aber der kam immer wieder und wieder. Immer wenn er zu Ende war, begann er wieder von vorne, eine Endlosschleife des Schreckens. Er stand auf einer Kreuzung in einem engen, gemauerten Gang, der ihn irgendwie an die Abwasserleitung erinnerte, in die er einmal als kleiner Junge gestiegen war. Auf allen vier Seiten führten Abzweigungen in die Dunkelheit, in der Mitte stand ein Junge. Harold konnte das Gesicht des Jungen zwar nicht sehen, aber er wusste, dass er selbst es war, viele Jahre in der Vergangenheit. Der Tunnel direkt vor ihm lag in dunkelblaues, unirdisches Licht getaucht war. Er wusste nicht, was dahinter lag, aber wollte dorthin. Ganz anderes der Tunnel links von dem Jungen. Dort war es dunkel und seltsame Geräusche drangen von dort an sein Ohr. Er fühlte was der Junge fühlte, er sah und hörte, was der Junge hörte. Er spürte seine Angst, seine Verzweiflung und er hörte die Geräusche aus dem linken Gang. Langsam näherten sie sich. Harold wollte aufschreien, den Jungen warnen, doch so laut er auch schrie, der Junge stand nur da, wie ein Frosch im Licht der Taschenlampe des Fängers. Verzweifelt erkannte Harold, dass nur er den rettenden, blauen Schimmer sah, der Junge jedoch nicht.
Etwas kam aus der Dunkelheit. Eine Gestalt, hager, zierlich, gehetzt. Überrascht erkannte Harold, dass es die junge Frau aus der Bibliothek war. Der Junge schien sie zu kennen, denn er lächelte und Harold fühlte ein verzehrendes Feuer, ein brennendes Verlangen in dem Jungen. Die Frau bedeutete ihm alles und er wollte ihr nahe sein. Als die zierliche Gestalt des Jungen gewahr wurde, blieb sie stehen, beugte sich zu diesem hinunter und strich ihm durchs Haar. Wortlos hob sie den Zeigefinger an ihre Lippen. Hinter ihr war noch etwas, sie wollte nicht, dass es sie bemerkte. Schlurfende Geräusche drangen durch den Kanal, Schwer, düster, bedrohlich. Das Mädchen sah sich um. Harold wollte ihr zurufen, dass sie nur in den blauen Tunnel zu gehen brauchte, doch wieder war er zur Zuschauerrolle verdammt. Mit derselben tänzerischen Leichtigkeit, die er schon in der Bibliothek an ihr bewundert hatte, trat die Frau schließlich einfach durch eine der gemauerten Wände und verschwand. Der Junge streckte seine Hand aus, wollte sie halten, aber alles was er zu fassen bekam war glitschiges Gestein. Der Schrei aus Harolds Kehle kam plötzlich und unvermittelt. Der verzweifelte Schrei eines gefangenen Tiers im Käfig, so laut er konnte. Immer lauter und lauter. Was da vor ihm aus dem Tunnel trat war seine Mutter. Doch sie hatte nichts mehr von der gütigen Frau aus seiner Erinnerung an sich. Wut hatte tiefe Falten in ihr Gesicht gegraben. Glühende Augen suchten wild nach ihm. Tränen traten Harold in die Augen und langsam verblasste die Welt um ihn, schrumpfte zu einem unbedeutenden Nichts zusammen.
Noch immer laut schreiend erwachte er, kerzengerade in seinem Bett sitzend. Sein Schlafanzug war schweißnass. Verwirrt machte er Licht und blickte sich um. Es war zweifellos sein Zimmer, er war noch immer hier. Fahrig strich er sich die verklebten Strähnen aus dem Gesicht. Was hatte der Traum zu bedeuten gehabt? Wieso war er so real gewesen? Er hatte schon viel über Träume gelesen, aber sie durften nicht so real sein. Was hatte seine Symbolik zu sagen gehabt? Nach einem ausgedehnten Gähnen erhob er sich und schlüpfte in seine Hausschuhe. Er musste jetzt etwas essen, ansonsten würde er sich nie mehr beruhigen, ein Punkt in dem ihm sein knurrender Magen recht gab.
Wieder lief ihm ein Schauer über den Rücken, als sein Schweißfilm langsam abkühlte und in dicken Tropfen über seine Rücken rann. Für einen kurzen Moment wurde ihm schwindelig, bis sein Herz sich wieder daran gewöhnt hatte, gegen die Schwerkraft zu pumpen. Er stolperte den kalten Gang entlang, bis zum Schuhregal, als er es hörte. Ganz leise. Da war irgendwo Musik. Klassische Musik. Verwirrt trat er in den Gang hinaus, dort wie die unirdische Musik zu entspringen schien. Er sah sie sofort, die blauen Schuhe. Ordentlich aufgereiht zwischen seinen Wanderschuhen.
Verwirrt, erschrocken und müde, nahm Harold die Schuhe und stellte sie wieder in die Kommode. Wie hatten sie nur daraus entkommen können? Die Frage hielt ihn in dieser Nacht noch lange wach.  

Mittwoch, 10. August 2011

Die Wahrsagerin

Der kleine Wohnwagen stand eines Tages einfach am Rande des Tümpels, unter einer großen Trauerweide. Dort, wo die Frösche in der Nacht laut ins Wasser sprangen und die Libellen anmutig über die grünliche Wasseroberfläche schwebten. Pflanzen und Blätter aller Art hatten hier eine schlammig-brackige Heimat gefunden und das Schilf beherbergte einsame Vögel. Niemand hatte je gesehen, wie der Wohnwagen hierhergekommen war, welcher Wagen ihn gezogen hatte. Alles, was die Menschen wussten war, dass er jetzt hier stand. Ein wahrlich wundersames Gefährt auf vier großen Holzrädern mit dicken, aus Holz gedrechselten Speichen. Der Aufbau über den Rädern glich einer Hütte wie man sie sonst wohl im Wald vermutet hätte, aus Brettern zusammengezimmert, mit blauen Fensterläden und Spitzenvorhängen, die den Blick nach drinnen versperrten. Aus dem kleinen, metallenen Kaminrohr quoll kein Rauch, und hinter den Fenstern brannte kein Licht.
Das kleine Mädchen, Kassandra, drängte sich ängstlich an ihre Freundin, als sie in der Abenddämmerung den Kiesweg durch die Schilflandschaft herunterkamen und den Wohnwagen da stehen sah. Das Gefährt schien einem Märchen entsprungen zu sein. Jedoch einem der düsteren, ursprünglichen, aus einer Zeit, als die Menschen noch wussten, dass Dinge in der Dunkelheit lauern, denen man besser nicht begegnet und manches freundliche Lächeln nur eine Maske zur Verschleierung der Abgründe darunter diente. Kassandra hatte dies nie vergessen und obwohl sie erst acht Jahre alt war, bestand für sie kein Zweifel, dass die Dunkelheit manchmal eben mehr war, als die bloße Abwesenheit von Licht.

Sie hatte den Nachmittag mit ihrer Freundin Letizia auf dem Spielplatz am See verbracht. In der Stadt gab es keine Orte für Kinder mehr, dazu mussten sie hinaus, den Kiesweg hinunter und vorbei an den vielen Tümpeln, Wiesen und Schilfmeeren. Dort, bei den Bootsanlegestellen gab es noch viele einsame Plätze, abgeschirmt von Bäumen mit tief hängenden Ästen, die so gar nichts mehr jenen überzüchteten, hochstämmigen Bäumen der Parks zu tun hatten. Solche Bäume liebte Kassandra. Vielleicht entsprachen sie nicht dem, was die Erwachsenen als „sauber“ und „aufgeräumt“ bezeichneten. Vielleicht lebte wirklich Ungeziefer in jenem struppigen Geäst und möglicherweise krabbelte es den Unachtsamen dann über den Kopf. Aber, bei allem was Kassandra heilig war – das waren noch Bäume. Ehrliche Geschöpfe, die sich nicht dafür entschuldigten, wer oder was sie waren. So sähe die Natur wohl aus, wenn man sie nur ließe.
Also waren die beiden Mädchen am frühen Nachmittag auf der Suche nach einem ruhigen Ort am See gewesen, aber ihre Lieblingsstelle, am Wasser, von der Welt abgeschieden, fanden sie besetzt. Ein junges Paar, ebenfalls auf der Suche nach jener Anonymität, saß schon da und sie waren nicht nett zu den beiden Mädchen gewesen, hatten sie verjagt und Namen zugeworfen, die Kassandra nicht ganz verstand, ihr aber irgendwie unfreundlich erschienen. Schließlich blieb nur mehr der Spielplatz.
Auf den Heimweg hing Kassandra ihren Gedanken nach, als plötzlich der Wohnwagen vor den beiden auftauchte. Letizia lachte und zeigte auf die blauen Fensterläden. Der Wagen sah so aus, als wäre er gebaut, um von Pferden gezogen zu werden. Kassandra jedoch vermochte daran nichts Erheiterndes zu erkennen und noch während sie sich unsicher umblickte, flackerte in einem der Fenster ein unstetes Licht auf.
„Lass uns den anderen Weg nehmen“, flüsterte sie ihrer Freundin zu und ergriff die kleine Hand. Aber Letizia schüttelte den Kopf. Mutig trat sie nach vorne.
„Das schau ich mir genauer an.“
Nach kurzer, erfolgloser Gegenwehr ließ sich Kassandra hinterher ziehen. Nach einigen Schritten sahen sie die Spuren auf dem Wagen. Jene Stellen, an denen der Zahn der Zeit genagt hatte. Der Lack auf dem Holz war keineswegs mehr unversehrt. Vielfach abgeblättert, rissig und spröde zeigte er auch Spuren von Steinschlag und Kratzern, als hätten große Tiere hier und da versucht, einzudringen. Die Holzräder, mit Metall beschlagen, wirkten brüchig und ausgebleicht. Kassandra fragte sich, wie viele Straßen sie wohl gesehen hatten in ihrer Zeit. In Kassandras Geist stiegen Bilder auf. Geschichten, die dieser Wohnwagen erlebt haben mochte. Auf engen Straßen über die Alpen, in einer Zeit als die Menschen angstvoll hinauf zu den Gipfeln blickten. Irgendwo durch einen Wald in Osteuropa reisend, auf den Spuren nach alten Geschichten über Vampire. Wer wusste schon, wo dieser Wagen gewesen sein mochte?
„Ich weiß es“, verkündete eine brüchige, hohe Stimme vom Fenster her. Ruckartig hob Kassandra den Kopf und blickte in das Gesicht der ältesten Frau, die sie je gesehen hatten. Sie trug ein buntes Tuch um den Kopf, gehalten von einem Knoten über ihrem rechten Ohr. Nie hätte Kassandra es für möglich gehalten, so viele Falten in einem einzigen Gesicht versammelt zu haben – zerfurcht wie eine Wüstenlandschaft nach tausend Jahren Dürre. Die Landkarte eines Lebens, dachte Kassandra. Doch so alt das Gesicht wirkte, so jung waren die Augen. Funkelnd blau und scharf sahen sie auf das Mädchen herunter.
„Ich könnte dir neunundneunzig und eine Geschichte über diesen Wagen erzählen. Ich bin eine Wahrsagerin, musst du wissen.“
Letizia wich vom Wagen zurück. Ihr Mut hatte sie verlassen und alles, was sie wollte, war nach Hause zu laufen. Doch Kassandra rührte sich nicht. In ihrem Kopf war kein Platz mehr für die ängstliche Freundin, die sie erst in diese Lage gebracht hatte.
„Willst du nicht hereinkommen?“, fragte die Alte mit einem freundlichen Lächeln, bei dem ihr eine weiße Strähne unter dem Kopftuch herausrutschte und über die Stirn herunter bis auf die Nase fiel.
„Komm Kassandra, lass uns gehen“, rief ihre Freundin dem Mädchen zu. Kassandra schüttelte den Kopf: „Ich muss nach Hause, unsere Eltern erwarten meine Freundin und mich schon.“
Die Besitzerin des Wohnwagens lachte gackernd und zeigte aber ihr gelbes, lückenhaftes Gebiss.
„Das tun sie wohl. Und dennoch war das nicht meine Frage.“ Sie sah zu dem Mädchen hinunter und wiederholte: „Willst du nicht hereinkommen?“
Zögerlich machte Kassandra einen Schritt zur Hinterseite des Wagens, dort wo eine kleine Holztüre mit einem Buntglasfenster oben drüber, ins Innere führte.
„Ich hole meinen Vater“, rief Letizia den beiden hinüber und rannte am Wohnwagen vorbei in die Stadt.
Die Alte verschwand vom Fenster nur, um Sekunden später die Türe des Wohnwagens zu öffnen und Kassandra ihre Hand entgegenzustrecken. Die Frau sah genauso aus, wie Kassandra sie sich vorgestellt hatte. In einem langen, bunten Rock mit wilden, abstrakten Mustern überzogen, und einer weiten Rüschenbluse vom grellsten Rot, das man sich vorstellen konnte. 

Kassandra nahm sich ein wenig Zeit ihren Blick durch den Wagen schweifen zu lassen. Langsam glitten ihre Augen über das dunkle Holz, das so aussah, als würde es jeden Moment, von Würmern und Fäulnis zerfressen, zu Sägespänen zerfallen. Wie alt mochte das Gefährt wohl sein? Nicht einmal annähernd konnte Kassandra es erahnen. Überall waren bunte Tücher an den Wänden festgemacht worden, rote, blaue, grüne, gelbe – manche verknotet, andere frei im Wind wehend. Es schien so, als hätte die alte Frau die Hässlichkeit und das Alter des Holzes, aus dem der Wagen bestand, mit den Tüchern überspielen wollen. Kassandra aber fand, dass sie damit nicht viel Glück gehabt hatte, denn nun wirkte er überladen, wild durcheinandergewürfelt und noch viel schlimmer als vorher. Alte Reisekisten mit massiven Metallbeschlägen waren am hinteren Ende des Wagens gestapelt, sie fragte sich, was diese wohl enthalten mochten. Vielleicht seltsame Kugeln, Rollen und Bücher mit Zaubersprüchen oder einfach nur die Kleider der alten Wahrsagerin? Die Kisten waren alle mit schweren Metallschlössern gesichert.
„Komm setz dich“, forderte die Alte sie auf und deutete auf einen kleinen Tisch mit zwei Stühlen. Der, den sie ihrem Gast anbot, war ein einfacher Holzschemel, ohne Rückenlehen oder Sitzpolster. Sie selbst ließ sich jedoch in einem weichen, mit rotem Stoff überzogenen Polstersessel sinken. Dabei funkelten ihre Augen so, als wollte sie das Mädchen auffordern, etwas zu sagen, doch Kassandra schwieg und tat stattdessen einfach wie ihr gesagt.
Der Tisch, der die beiden ungleichen Frauen trennte, war alt und abgenutzt, das Holz hatte dieselbe Färbung angenommen wie die Bretter des Wagens – ein schwärzliches Braun. Über den gesamten Tisch zogen sich Maserungen und Kanäle, die von Holzwürmern zeugten, da und dort prangten Brandflecken und an einigen Stellen war etwas eingeritzt worden. Sinnlose Initialen waren in einer Ecke des Tisches immer wieder eingeritzt worden – vermutlich mit einem scharfen Messer. Kassandra fragte sich, wer das getan hatte. Die Wahrsagerin mit Sicherheit nicht, sie war zu alt für solche Kindereien und sie konnte den Tisch nicht so lange haben, dass sie als junge Frau die Initialen hätte einritzen können.
Kassandra erschrak, als sie plötzlich gewahr wurde, dass die Alte sie musterten und ihrem Blick zu den verewigten Initialen folgte. Die spröden Lippen verzogen sich zu einem rissigen, hintergründigen Lachen.
„Du fragst dich, wer sie eingeritzt hat, nicht wahr? Was vermutest du?“
Kassandra zuckte zusammen, als die Worte der Wahrsagerin wie Peitschenhiebe auf ihre Ohren trafen.
„Ich weiß es nicht,“ stammelte das Mädchen, doch die Alte schüttelte den Kopf: „Nein, ich weiß, dass du sehr wohl viele Möglichkeiten im Kopf hast, wie diese Initialen auf den Tisch gekommen sein könnten – du willst sie mir nur nicht verraten.“
Die Wahrsagerin entspannte sich wieder und fuhr ruhig fort: „Aber das ist gut so, ich habe nicht erwartet, dass du mir deine intimsten Geheimnisse verraten würdest. Aber du denkst sicher, dass diese Initialen hier genau richtig sind, dass es so ist, als müssten auf dem Tisch einer alten Wahrsagerin mysteriöse Initialen eingeritzt sein oder? Das erwartest man doch eigentlich – zumindest wenn man so jung ist wie du, oder?“
Kassandra zauderte, aber der bohrende Blick der Alten traf sie, bohrte sich in ihr Gehirn. Das Mädchen verinnerlichte sich, dass man vor dieser Frau keine Geheimnisse haben konnte. Zögerlich nickte Kassandra und versuchte, dem starren Blick auszuweichen. Mit einer Handbewegung wischte die Wahrsagerin die seltsame Stimmung weg, die sich zwischen den beiden, der alten und der jungen Frau gebildet hatte.
„Du hast recht, es gehört irgendwie zur Stimmung, und ich denke, deshalb sind die Initialen dort, es war einfach richtig also ist es geschehen.“
Die Alte lachte ihr gluckerndes, krächzendes Lachen und tätschelte Kassandras zitternde Hand, während sie das Kind aus ihren kleinen, opalfarbenen Augen belustigt musterte.
„Ich werde dir drei Dinge über deine Zukunft verraten. Was hältst du davon?“
Mit einer Hand zog ihre seltsame Gastgeberin einen Stapel vergilbter Spielkarten unter dem Tisch hervor und legte ihn vor Kassandra hin. Wie selbstverständlich zog sie eine aus dem Stapel. Zuerst sah Kassandra nur die Rückseite, eine mit Sternen bedeckte Dunkelheit, doch dann wurde die Karte aufgedeckt vor ihn hingelegt.
Eine Frau saß da auf einem Hocker, ihre Augen verbunden, zwei Schwerter, nach oben gerichtet, in ihren gekreuzten Armen.
„Was sind das für Karten?“ Fragte Kassandra und betrachtete das vor ihr liegende Bild mit einer Mischung aus Neugierde und Furcht.
„Das Tarot“, erwiderte die Wahrsagerin. „Man kann darin lesen.
Kassandra schüttelte den Kopf, sagte aber nichts. Neben ihren Eltern hatte lange eine Frau gewohnt die aus Kristallkugeln und Karten gelesen hatte. Die Meinung ihrer Eltern zu dem Thema war eindeutig.
„Du glaubst nicht daran, meine Kleine. Stimmt’s?“ Die Stimme der Alten blieb freundlich, jedoch war es keine Frage, sondern eine Feststellung, zu der Kassandra nur nicken konnte.
„Das wirst du aber noch“, fuhr die Kartenlegerin fort. „Eines Tages.“
„Und wie entscheiden Sie, welche Karte gezogen wird?“ Mit kindlicher Neugierde sah Kassandra auf die runzeligen, dünnen Finger der Frau als sie eine neue Karte ziehen wollte. Bei der Frage erstarrten die Finger und zwei blau funkelnde Augen sahen auf das Mädchen herab.
„Ich entscheide gar nichts. Die Karten tun das. Oder was hinter den Karten steht.“
Kassandra begegnete dem Blick und ließ nicht locker. „Und was steht hinter den Karten?“
Diesmal zuckte ihre Gastgeberin nur mit den Schultern: „Alles zu seiner Zeit.“
Schweigend zog sie eine weitere Karte aus dem Stapel. Sie zeigte einen Wanderer bei Nacht. Er war in Rot gekleidet mit einem Holzstab in der Hand. Hinter ihm raue Felsen, ein Fluss, vielleicht auch das Meer. Im Vordergrund standen acht goldene Kelche übereinander gestapelt. Die dritte Karte zeigte einen Fährmann, sechs Schwerter steckten im Holz und seine zwei Fahrgäste, ein Kind und eine in eine Decke gehüllte Frau, sahen auf den Boden des Bootes. Alle drei dem Betrachter abgewandt.
Die vierte Karte zeigte eine Frau, die Hände vor dem Gesicht, aufrecht im Bett sitzen. Hinter ihr an der Wand hingen neun Schwerter, die Bettdecke mit Rosen bestickt.
Schließlich zog die alte Wahrsagerin noch eine letzte Karte. Darauf war ein hagerer Mann abgebildet, in einen schwarzen Mantel gehüllt. Er hatte seinen Arm gehoben und verbarg damit das Gesicht während er mit gesenktem Kopf auf drei umgestoßene Kelche vor sich starrte, hinter ihm zwei aufrecht stehende Kelche.
Kassandra schauderte beim Anblick der verblassten Bilder. Keines davon schien in irgendeiner Weise freundlich, nicht eines schien etwas Positives zu zeigen. Mit ihren faltigen Fingern fuhr die Frau über die fünf Karten vor ihr auf dem alten Tisch.
„Du siehst Dinge, die andere nicht sehen, träumst Träume, die anderen nicht zugänglich sind. Es ist eine Bürde so zu denken wie du. Wie eine Gefangene fühlst du dich, manchmal zerbrochen und so verloren, dass du nicht siehst, was du noch besitzt. Großes wird geschehen.“
Kassandra schüttelte den Kopf, wollte etwas sagen, aber die alte Wahrsagerin schob die Karten übereinander. 
„Du wirst jung sterben“, sagte sie plötzlich mit ausdrucklosem Gesicht. Kassandra sprang auf, ihr Herz raste.
„Warte“, rief die Frau und hielt Kassandras Handgelenk. „Setz dich. Du wirst jung sterben, aber mehr als einmal leben. In jedes Leben nimmst du jedoch die Bürde von vorher mit. Erst, wenn du das Gepäck endgültig hinter dir lassen kannst, wird das wirkliche Leben beginnen.“
Kassandra sah ihre Gastgeberin aus großen Augen an. Sie fühlte Hitze durch ihren Körper pulsieren. Und Angst. Doch sie tat, was die Frau ihr befahl und setzte sich wieder.
„Erschrick jetzt nicht“, fuhr die Frau mit sanfter Stimme fort, „du wirst eine lange Reise antreten und dein eigenes Grab sehen.“
Diesmal ließ sich Kassandra nicht zurückhalten, sie entzog sich dem Griff ihrer Gastgeberin und rannte zur Türe.
„Du wirst träumen, wenn die Welt es nicht mehr kann. Vielleicht träumst du ja jetzt schon.“
Kassandra blieb stehen und wandte sich um. Die Alte lächelte.
„Ich habe dir drei Vorhersagen versprochen, dazu will ich stehen. Die Dritte lautet: Du wirst nie alleine sein, selbst in der größten Dunkelheit. Auch, wenn du alles zurücklässt. Und am Ende wirst du das finden, wonach du suchst.“
Kassandra trat unschlüssig von einem Bein auf das andere. „Was soll das bedeuten?“
„Mein Kind, wenn du wirklich wüsstest, was das zu bedeuten hat, dann würde ich jetzt nicht mehr hier sein, sondern schnellstens das Weite suchen. Diese Dinge kann und darf niemand verstehen.“
Für einen kurzen Augenblick umwölkten sich die Augen der Wahrsagerin, als Ahnungen dessen durch ihren Geist wehten, was wäre, wenn Kassandra verstehen würde.
 „Wenn du alles verstehen würdest“, fügte die Alte schließlich erklärend hinzu, „dann wärst du vielleicht der gefährlichste Mensch auf der Welt. Du wärst die Trägerin einer Macht jenseits deiner Vorstellungskraft.“
Müde und ausgelaugt ließ sich die Alte wieder in den weichen, bunten Polstersessel zurücksinken und schloss für einige Augenblicke die Lider. Noch niemals, da war sich Kassandra ganz sicher, hat sie einen Menschen mit so vielen und so vielen Falten gesehen wie die alte Wahrsagerin. Jetzt, wo ihr Gesicht entspannt war, waren die Falten noch viel tiefer und auffälliger.
Kassandra wollte etwas entgegnen, aber die Alte brachte sie schnell zum Schweigen: „Ich habe etwas für dich. Das möchte ich dir zeigen.“ Kassandra hielt mit halb geöffnetem Mund inne und sah der Alten zu, wie sie sich schwerfällig aus dem weichen Sessel erhob. Schwulstige, kitschige Kleider in allen Farben des Regenbogens wehten sanft um einen ausgemergelten, alten Körper. An dieser Frau war kein Platz mehr für Fleisch, nur noch Knochen und alte, lederne Haut. Vorsichtig setzte die alte Wahrsagerin einen Fuß vor den anderen, so als hätte sie Angst, bei einer zu schnellen Bewegung ihre Knochen zu brechen. Sie schien den Blick des Mädchens in ihrem Rücken zu spüren, denn nach ein paar müheseligen Schritten sah sie über die Schulter.
„Schäm dich, Mädchen. Man starrt alte Menschen nicht so, denn das Alter ist keine Wahl, sondern ein Fluch, den man tragen muss. Aber jeder Mensch trägt ihn anders – manche mit Würde, andere eben ohne. Ich wage nicht zu sagen, wie ich ihn trage, doch ich hoffe ich mache mir selbst nicht Schande.“
Plötzlich huschte ein jugendhaftes Lächeln über die Lippen der Frau. „Dein Weg ist ein anderer.“
Kassandra blickte beschämt zu Boden.
Schließlich erreichte die Alte eine der großen Truhen und ging mit einem hörbaren Knacken der Gelenke in die Knie. Umständlich fingerte sie in ihren Gewändern umher, bis sie einen alten Eisenschlüssel fand, schob ihn ins Schloss und drehte ihn um. Der mit eisernen Bändern beschlagene Deckel schwang fast von selbst auf – völlig geräuschlos. Aus dem ganzen wertlosen Trödel und Plunder zog sie schließlich ein Buch hervor. Es war alt, abgenutzt und groß. Eine dichte Staubwolke verhüllte ihr Gesicht, als sie einmal über den Einband blies.
„Das habe ich für dich aufbewahrt“, sagte die Frau und reichte es dem Kind mit zitternden Fingern. „Es ist eine Geschichte. Eine wunderbare und zugleich traurige Geschichte. Ein Anfang, eine Mitte und ein Schluss. Stör dich nicht daran, dass das unrealistisch ist.“
Kassandra runzelte die Stirn. „Was soll daran unrealistisch sein?“
Die Alte schüttelte den Kopf. Ein Regen grauer Strähnen ergoss sich von unter dem Kopftuch über ihre Stirn.
„Kein Schluss. Nie ein Schluss. Du wirst verstehen, wenn du älter bist. Jetzt geh. Sonst kommt noch der Vater deiner kleinen Freundin.“
Als Kassandra zur Türe trat, blickte sie sich noch einmal um. Ein seltsames Gefühl bewog sie dazu. So, wie sie manchmal einfach wusste, wenn jemand an sie dachte oder sie beobachtete.
„Ist noch etwas?“, fragte sie, als sie bemerkte, dass die Wahrsagerin sie immer noch anstarrte.
„Vielleicht“, gab diese zu. Durfte sie noch mehr sagen? „Wenn sie dir anbieten zu bleiben... Sag‘ nein, zumindest beim ersten Mal. Es gibt noch viele Straßen, voller Katzen.“

Kassandra trat aus dem Wagen ins Freie, es war dunkel geworden, wie sie überrascht feststellte. Das schwache Leuchten am Horizont zeigte an, dass die Sonne wohl gerade erst untergegangen war und doch zog schon eine beißende Kälte auf, die sich durch ihre Kleidung fraß. Ein Aufflammen am Himmel ließ das Mädchen zusammenzucken. Donner folgte eine Sekunde später. Sie sah nach oben, wo schwarze Wolken den fahlen Glanz der Sterne zu verdecken begannen. Unschlüssig drehte sie sich um, dem Wohnwagen der seltsamen Alten zu. Er stand noch da. Aber wirkte er nicht plötzlich viel älter? War nicht noch mehr Lack abgeblättert und die Speichen der Räder rissiger? Erneut grollte es am Himmel, als würden riesige Steine einen Berg hinunterpoltern. Mit jeder Sekunde wurde die Nacht dunkler, die Wolken dichter und das ferne Leuchten am Horizont schwächer. Sie wollte laufen, nach Hause, weg von hier an einen sicheren Ort. Aber die Stimme der Frau war noch in ihrem Kopf. Sie würde jung sterben. Wie jung? Noch in diesem Jahr? Im nächsten? Vielleicht mit zwölf? Schließlich fasste sich das Mädchen ein Herz und ging zu dem Wagen der Alten zurück. Der Wind des aufziehenden Gewitters rüttelte am Rahmen des Gefährts, ließ die hölzernen Achsen vor Schmerz stöhnen.
Vorsichtig setzte Kassandra einen Fuß auf das vordere Wagenrad und zog sich am schmalen Vorsprung der Fensterbank nach oben. Verstohlen sah sie über den unteren Rand des Fensters in den Wohnwagen hinein. Über dem Kopf der Alten pendelte eine Öllampe, deren unruhiger Schein tanzende Schatten auf die Wände und Tücher warf. Sie schien mit den Karten vor sich zu spielen. Die vergilbten Blätter lagen wild verstreut vor ihr auf dem Tisch. Wie wahllos fasste die Frau in den Haufen und zog eine Karte heraus. Mit einem Grinsen, das Kassandra von der Seite mehr erahnen denn sehen konnte, legte sie diese vor sich hin, so, dass das Mädchen die Abbildung darauf gerade nicht sehen konnte. Mit flinken Fingern beförderte sie noch eine Karte direkt daneben. In diesem Moment hätte Kassandra alles gegeben, um die Karten zu sehen. Eine Sekunde später bereute sie es schon. Als hätte die Wahrsagerin ihren Gedanken gehört, lehnte sich die alte Frau zurück und gab den Blick auf die Karten frei. Die eine Karte zeigte eine Frau auf einem Thron, zwischen zwei Säulen, die eine Schwarz, die andere Weiß. Sie trug lange Gewänder, und als Kassandra die Augen zusammenkniff, um das Gesicht der Abgebildeten besser sehen zu können, glaubte sie sich selbst darin zu sehen. Mit einer kaum merklichen Bewegung ihrer Hand schob die alte Wahrsagerin die zweite Karte darüber. Sie zeigten einen Mann in einer schwarzen Rüstung auf einem weißen Pferd. Doch es war kein Mann, wie Kassandra erschreckt feststellte. Es war ein Skelett. Und zu seinen Füßen lag ein toter König. Eine Frau, ein Kind und ein Geistlicher knieten vor der Erscheinung. Kassandra hatte keinen Zweifel – das war der Tod.
In diesem Moment drehte sich die Wahrsagerin Kassandra zu. Dabei zog sie sich das bunte Tuch vom Kopf und weiße Haare, grell wie Schnee, standen wirr von ihrem alten Kopf ab. Doch die Augen waren es, die Kassandra vor Angst aufschreien ließ. Sie waren nicht mehr blau wie Opale, sondern schwarz wie das Meer bei Nacht. Ohne Pupille. Finstere Abgründe. Vor Schreck und Überraschung verloren Kassandras Finger die Kraft, und das Mädchen fiel rückwärts hinunter auf den weichen, schlammigen Boden der hier die Tümpel und Schilfmeere umgab.  
„Kassandra, ist alles in Ordnung mit dir?“
Verwirrt sah das Mädchen sich um, Als ihr Vater, begleitet von Letizia und deren Vater, über die Straße herübergerannt kam. Das Mädchen blieb einfach liegen, bis die starken Hände der Männer sie hochhoben und besorgte Blicke ihren Körper musterten.
„Fehlt dir etwas? Geht es dir gut?“ Die Stimme ihres Vaters überschlug sich fast.
„Ist ok“, sagte Kassandra schließlich. „Die alte Wahrsagerin in dem Wohnwagen hat mich nur erschreckt.“
Ihr Vater sah sich um. Hinüber zum Tümpel, über das Schilf und dann den Kiesweg hinauf.
„Welcher Wohnwagen?“
Kassandra befreite sich aus seinem Griff und wandte sich dem Ort zu, an den sie sich vor Sekunden noch geklammert hatte. Doch da war nichts. Überrascht, verwirrt und immer noch etwas ängstlich sah sich das Mädchen um, begleitet von den sorgenvollen Blicken der Erwachsenen. Alles was sie fand, waren vier Vertiefungen in der feuchten Erde. Dort, wo wohl die Räder des Wagens geruht hatten.

Lange, nachdem Kassandra und ihre Begleiter gegangen waren, saß die alte Frau noch an ihrem Tisch und betrachtete die in den Tisch geschnitzten Initialen. Hätte sie dem Mädchen vielleicht mehr verraten sollen? Unentschlossen fuhr sie die Spuren im Holz nach. Ihr war, als wäre es erst gestern gewesen, dass sie hier gesessen und ihren Gast bei der Arbeit beobachtet hatte. Ja, sie hätte Kassandra mehr erzählen können. Von sich und von der jungen Frau, zu der das Mädchen einmal heranwachsen würde. Vielleicht das nächste Mal. Mit einem lauten Seufzen erhob sie sich. Gerade rechtzeitig. Es klopfte am Wohnwagen. Sie sah durch das Fenster nach draußen. Ein anderer Ort, eine andere Zeit. Sie öffnete die Türe und sah über den Fremden, der dort stand, hinweg. Düstere, kahle Hügel erstrecken sich hier und einem glutroten Himmel. Verdorrte Bäume, versengt zur Farbe von schwarzer Kohle streckten ihre toten Äste in den Himmel und über allem lag der Geruch von Verwesung und Tod.
„Hast du sie getroffen?“ Fragte der Mann vor der Türe. Die Alte nickte. Es lag noch viel Arbeit vor ihr und nur noch wenige Jahre.