Sonntag, 3. April 2011

Das Licht

Dieser Tag fing wirklich gut an, sofern man von einem Montag sagen kann, dass er gut angefangen hat. Nun, Du musst wissen, ich habe Montage noch nie besonders leide können aber heute bin ich einfach so aufgewacht und fühlte mich frisch und munter. Ich wohne in einem kleinen Vorort einer großen Stadt, ganz draußen, wo kaum Verkehr herrscht und wirklich noch jeder jeden kennt. Manche kommen freiwillig hier her, ich nicht. Die Anonymität der Großstadt geht mir ab, die Einsamkeit mitten im Sturm. Doch seit einiger Zeit fürchte ich mich vor dem Alleinsein und  wäre nichts lieber als von der Welt vergessen. So ist das mit meiner Vergangenheit, die mich jetzt eingeholt hat.
Als ich heute Morgen das Haus verließ um meiner Arbeit als Lektor einer kleinen Provinzzeitschrift nachzugehen spürte ich es sofort. Es war die eigentümliche Art von Energie wie sie immer entsteht kurz bevor ein Blitz einschlägt, nur, dass diesmal kein Blitz einschlug, der Himmel war wolkenfrei und es würde ein klarer Tag werden. Etwas viel Schlimmeres lag in der Luft. Du musst wissen, ich habe diese Energie schon früher einmal gespürt, jetzt erscheint es mir als wäre es eine Ewigkeit her, mindestens im letzten Leben oder so.
In dem Moment habe ich mir nicht viel dabei gedacht, es hätte die Folge eines schlechten Frühstückeis oder Traumes sein können, also habe ich mein Fahrrad genommen und bin losgefahren. Die Welt da draußen war noch dunkel, so wie ich es gerne mag, der Tag und ich sind keine wirklichen Freunde, er ist mir zu laut, zu heftig und zu nah, bisher konnten wir uns nur auf einen Waffenstillstand einigen, ich ertrage ihn und er mich.
Nicht weit von meinem Haus entfernt sah ich ihn. Ich stand an dieser großen Kreuzung mit der Ampel die immer Rot anzeigt, wenn ich komme. Und da war er. Ein alter Mann auf einem noch viel älteren Klapperrad, nichts besonders, doch es war das Licht, das die Erinnerung zurückbrachte. Kein einfaches Weiß oder Rot, wie die meisten Fahrradlichter, nein, nicht dieses Licht. Es hatte einen Violettstich wie man ihn in dieser Intensität wohl nirgends sonst findet. Nur diese neumodischen Nebelscheinwerfer, die in den Augen schmerzen, kommen vielleicht in diese Nähe dieser Farbe, aber die Intensität erreichen sie nie.
Der Mann blickte mich nur kurz an und fuhr, ohne auch nur langsamer zu werden, einfach weiter über die Kreuzung. Ich kann mich noch an jede Einzelheit seines Gesichtes erinnern, die Haut so faltig wie das rissige Muster auf ausgedörrtem Lehmboden, das beinahe weiße Haar, welches wie silberne Flammen um seinen Kopf  flatterte. In seinen Augen lag Erkennen, zumindest bildete ich mir das ein.  Sicher kann ich mir nicht sein, erst wenn es zu spät ist.
Du wirst Dich jetzt fragen wieso ich Dir das erzähle, was es mit irgendetwas zu tun hat. Für mich hat es das, denn dieses Licht ist mir nicht fremd, ich kenne es, von einem anderen Ort unter anderen Bedingungen. Es ist das Licht Larrys, nur er hat dieses Licht und es ist das Licht des Todes. Ich weiß, Du hältst mich jetzt für verrückt aber hör Dir bitte vorher meine Geschichte an.
Es begann vor ungefähr acht Jahren, kurz nachdem ich meinen ersten Roman veröffentlicht hatte. Ein beinahe gescheiterter Schriftsteller, der am Ende doch noch einen Bestseller hinbekam, eine schöne Geschichte, beinahe ein Märchen und doch wahr, daher von der Presse gierig aufgesogen und in die Welt geschrien. Vielversprechend nannten sie mich. Aber genug davon.
Mein Lektor lud mich zu einer Party bei sich zu Hause ein und obwohl ich schon damals eine strenge Abneigung gegen solche Anlässe hatte blieb mir eigentlich keine Wahl. Lauter Leute die sich gerne in den Mittelpunkt stellten, jede Frage nur eine Möglichkeit die Aufmerksamkeit wieder auf sich zu lenken, verstecke Anspielungen, geschliffene Duelle in plattem Wortwitz und das ganze garniert mit Häppchen die niemand gegessen hätte, wenn nicht jeder ein noch größerer Feinschmecker und Ästhet als der andere sein hätte wollen. Es wurde Kaviar gegessen und Kubaner geraucht. Also ging ich hin. Wenn man jung ist sollte man keine Gelegenheit auslassen sich zu vermarkten, später könnte es zu spät sein.
Ich stand also am kalten Buffet, versuchte mich so klein wie möglich zu machen und einiger Damen jenseits der vierzig zu erwehren, die einmal eine Handvoll echter Schriftsteller haben wollten. Den jungen Mann, etwa in meinem Alter, am anderen Ende des Raumes, hätte ich beinahe übersehen, offenbar war er mir in der Kunst der Unsichtbarkeit weit überlegen. Nicht, dass an ihm irgendetwas Besonderes gewesen wäre. Mittellange, blonde Haare die in leicht fettigen Strähnen in sein Gesicht hingen, sind nun einmal nicht besonders anziehend, aber ich spürte eine gewisse Verbundenheit und als er zu mir herüber sah beschlich mich das Gefühl, dass dies nicht unsere letzte Begegnung sein würde. Minuten später verlor ich ihn aus den Augen, wurde in einen Strudel aus belanglosen Gesprächen und Autogrammen gezogen der mich zu ertränken drohte, trotz allem blieb er mir im Sinn haften.
Als die Party sich dem Ende zu neigte und die meisten Gäste gegangen waren kam ich nicht umhin meinen Lektor nach dem Namen des Unbekannten zu fragen. Ich begann damit ihn in allen Details zu beschreiben und stellte zu meiner Überraschung fest, dass die einzig wirklich nötige Information jene über den Sitzplatz des Unbekannten war.  Offenbar hatte mein Lektor einige Erfahrung mit dieser speziellen Person und wann immer er eine Zusammenkunft veranstaltete saß er genau dort. Er erklärte mir, dass es sich bei dem Mann um einen gewissen Jack Wagner handelte, einen ausgewanderten Amerikaner, der jetzt hier lebte. Auch eine Warnung gab er mir auf den Weg. Wagner sei ein Exzentriker allererster Güte, ein hervorragende Schriftsteller, der unter einem Pseudonym einen erfolgreichen Roman geschrieben hatte aber nebenbei einem schleichenden Wahnsinn zum Opfer fiel. Das alleine war genug um das glimmende Interesse meinerseits in eine lodernde Flamme zu verwandeln. Ein Schauer lief mir über den Rücken aber ich ließ es für den Moment dabei bewenden.
Die Tage vergingen und ich entschloss mich an einem neuen Werk zu arbeiten. Die ersten Seiten sind die schlimmsten, das waren sie immer, zwar hat man dabei alle Freiheiten aber auch keinen klaren Kurs, so sehr einem die Freiheiten auch die Möglichkeit geben etwas wahrlich Großes zu schaffen, so leicht kann man sich auf dem offenen Ozean auch verirren und am Ende in der Hitze vergehen.
Ich hatte den Fremden, Wagner, beinahe schon vergessen, als es spät in der Nacht noch an meiner Türe klingelte. Es war zu jener Zeit nicht ungewöhnlich mich auch im Morgengrauen noch am Computer vorzufinden, konzentriert auf die Buchstaben, ringend um Worte. Nur mit einem Morgenmantel bekleidet sah ich von der Arbeit auf und ging zur Türe. Ich hatte mit meinem Lektor gerechnet, vielleicht auch dem einen oder anderen Freund der mir betrunken einen Besuch abstatten wollte. Du kannst Dir meine Verwunderung nicht vorstellen, als ich die Türe öffnete und den jungen Mann dort stehen sah um den meine Gedanken so lange gekreist waren.
Er war in einem mitleiderregenden Zustand wie er da vor meiner Türe stand, die Haare vom Regen durchnässt, die Kleidung am hageren Körper hängend wie an einer Vogelscheuche. Trotzdem stellte er sich in aller Höflichkeit bei mir vor, drängte nicht ins Haus gelassen zu werden und wirkte auch sonst sehr gelassen auf mich. Obwohl er mir den Grund seines Hierseins nicht verriet bat ich ihn schließlich einzutreten, führte ihn zu einem Stuhl neben dem großen Kachelofen in meinen Wohnzimmer und brachte ihm trockene Kleidung und ein Handtuch. Bis heute ist es mir unverständlich wieso mir das alles in dieser Nacht so völlig normal und vertraut erschien, nicht eine Sekunde kamen mir Zweifel ob ich das Richtige tat.
Nachdem er sich abgetrocknet und umgezogen hatte bot ich ihm ein Glas meines besten Rotweins an und setzte mich in den weichen Ohrensessel vor den Kamin. Erst danach wagte ich es die Frage zu stellen, die mir unter den Nägeln brannte seit er durch meine Türe getreten war. Was hatte ihn zu mir geführt obwohl wir uns nicht kannten?
Er blickte mich lächeln an und antwortete, dass er meine Blicke auf der Party sehr wohl bemerkt habe, es fehlte ihm lediglich der Mut seine sichere Ecke zu verlassen und mich anzusprechen. Vielmehr hatte er sich mühsam durch seine wenigen Freunde meinen Namen verschafft und diesen Besuch lange geplant. Auf die Frage warum er denn nun gerade jetzt hier sei antwortete er nur, dass ihm meine Werke gut gefallen hätten, auch jene die nur in billigen Zeitschriften als Kurzgeschichten abgedruckt worden waren und er gerne mit mir plaudern wollte.
Obwohl ich spürte, dass mehr dahinter steckte, schwieg ich über meine Zweifel und plauderte stattdessen über neue und alte Werke, über unsere Ziele als Schriftsteller und vielerlei anders. Die Zeit verging so schnell wie sie das nur tut wenn man sich bestens amüsiert und es war lange nach Mittag des folgenden Tages eher er mich wieder verließ.
Von da an blieben wir in loser Verbindung, er kam bei mir vorbei, wir redeten und er ging wieder. Obwohl wir über alles Mögliche redeten kam ich ihm nie wirklich nahe. Wann immer es um seine neuesten Pläne als Schriftsteller ging erwachte er zu blühendem Leben und konnte stundenlang ohne Punkt und Komma reden, wenn ich das Thema aber auf Privates lenkte wurde er still, schien in sich zu versinken so als gäbe es neben dem Schriftsteller keinen Menschen unter seiner Haut.
Dennoch war seine Sprache makellos, druckreif und seine Argumentationen von bestechender Logik und Eleganz. Oft fragte ich mich wie mein Lektor wohl auf die absurde Idee gekommen war, dass dieser Mann an einer Geisteskrankheit litt. Er war so geistig wach und rege wie ein Mensch nur irgendwie sein konnte. Dabei hätte ich den Sturm sehen müssen der da vor meiner Veranda aufzog.
Die ersten Böen wurden spürbar als Jack eines Abends völlig außer Atem vor meiner Haustüre stand  und mit lautem Geklopfte und panischen Rufen Einlass verlangte. So wie ein Zugvogel weiß in welche Richtung er im Herbst fliegen muss wusste ich instinktiv, dass dieses Ereignis in direktem Zusammenhang damit stand, was er mir bisher verschwiegen hatte. Ich öffnete ich die Türe und ließ meinen sehr derangierten Freund ein, mein Schicksal im Schlepptau.
Um Luft, Worte und Selbstbeherrschung ringend stolperte er in mein Wohnzimmer und hinterließ eine Spur Erde auf dem teuren Perserteppich, sie ist immer noch zu sehen wenn man sich nur lange genug darauf konzentriert. Ohne ihn eine Sekunde aus den Augen zu lassen folgte ich ins Wohnzimmer und setzte mich auf eine Couch, ihm gegenüber, von Angesicht zu Angesicht. Eine kleine Ewigkeit war keiner mutig genug das erste Wort auszusprechen. Schließlich war er es, der das Schweigen brach.
Mit ängstlichem Blick, fast so als wäre ich es der ihn so in Panik versetzt hatte, sah er zu mir auf und „Ich weiß, dass du dich längst fragst, was mit mir los ist.“ Seine ganze Verlegenheit manifestierte sich in einer unbeholfenen Geste die wohl eine Entschuldigung ausrücken hätte sollen.
„Leider kann ich mich nicht gut verstellen und Geheimnisse konnte ich nie gut bei mir halten. Es gibt da eine Sache von de du wissen solltest, aber versprich mir bitte, dass du mich zu Ende sprechen lässt bevor du mich aus deiner Wohnung und deinem Leben wirfst."
Er sah wohl, dass ich ihm widersprechen wollte, winkte daher energisch und kopfschüttelnd ab. „Nein, versuch es erst gar nicht, du wirst mich auslachen, wenn du alles gehört hast.“
Langsam begann ich mich zu fragen, ob mein Lektor nicht doch recht gehabt hatte, vielleicht wurde mein Freund Schritt für Schritt wahnsinnig. Dennoch gab ich ihm mein Ehrenwort und er begann stockend seine Geschichte vor mir auszurollen.
„Alles begann vor einigen Monaten, als ich mit der Arbeit an meinem ersten Buch beschäftigt war. Wenn du es gelesen hast wirst du sicher wissen, dass es von okkulten Handlungen und einer Verschwörung erzählt. Es sollte ein gutes Buch werden, ich wollte endlich Erfolg habe, also habe ich selbst etwas herumprobiert, ohne Erfolg. Ich hätte es dabei belassen können, aber das konnte ich nicht. Bis ich diese Gruppe fand, du weißt schon, solche Typen die Nachts im Wald herumlungern und Feenkreise suchen. Ich habe mich mit denen zusammengetan und gemeinsam gearbeitet.“
Während seiner Ausführung musste er wohl bemerkt haben, dass ich immer weiter von ihm weggerückt bin, eher instinktiv als mit berechneter Absicht. Doch ich spürte dieses Unbehagen in mir, irgendwie begann ich tatsächlich zu glauben, dass dieser Mann vollkommen verrückt war und vielleicht sogar gefährlich sein könnte. Zu meiner Verteidigung muss ich allerdings sagen, dass wohl jeder so gehandelt hätte, die meisten sogar drastischer. Dennoch tut es mir heute Leid und ich muss mit der Schuld leben. Auf jeden Fall blickte Jack mich traurig an und nickte resignierend mit dem Kopf.
„Es ist ok, du bekommst Angst vor mir.“ Ohne meine Antwort abzuwarten fuhr er fort. „Diese Leute nahmen mich mit auf eine Reise in Tiefen die ich vorher nie gekannt hatte  und es begann alles gut zu laufen, mein Buch schritt voran, bis zu dem Zeitpunkt, als sie mir einen Vorschlag machten. Sie sagten mir, dass es da draußen noch Dinge gibt, die jenseits jeder Vorstellungskraft liegen, das ich mir danach wie ein Kind im Sandkasten vorkommen werden, dass zum ersten Mal den großen Baukran bemerkt. Wahrscheinlich habe ich sie so angesehen wie du mich jetzt, mit einer Mischung aus Angst, Neugierde und Abscheu. Aber ich bin kein sehr starker Mensch, ich lasse mich gerne zu etwas hinreißen, verdammt, es war wie eine Sucht und ich wollte mehr.“
Wieder hielt er inne, doch diesmal nicht, um mich traurig anzublicken, nein. In seinem Blick lag etwas Fiebriges, Dunkles. Es waren die Augen eines Junkies, der sich nach einer Droge verzehrt, die Augen eines Ungeheuers und sie brannten vor Gier.
Bestürzt blickte er mich an und schüttelte verzweifelt den Kopf.
„Es tut mir leid. Aber bitte verurteile mich nicht voreilig. Du bist der letzte mit dem ich sprechen kann, der mir zuhört. Es hätte jedem passieren können und keiner hätte die Kraft gehabt sich dagegen zu wehren.“
Schluchzend rollte er sich in meinem Sessel zusammen. Ich weiß nicht mehr warum, aber aus irgendeinem Grund wollte ich diese Geschichte zu Ende hören, ich wollte wissen was ihn so zerstört hatte. Also tat ich das einzige, wozu ich im Stand war. Ich legte ihm die Hand auf die Schulter und war einfach nur da.
Obwohl es sehr lange dauerte, schaffte ich es schließlich ihn zum Reden zu bringen. Mit einem Zittern in der Stimme fuhr er fort. „Ich war neugierig oder einfach nur gierig, also habe ich ja gesagt, ohne zu fragen worum es denn eigentlich ging.“
Wieder schüttelte er den Frage und blickte mich entschuldigend an, eher er fortfuhr. „Mein Buch warn immer dabei, jede Wort, jede Bewegung wurde darin aufgezeichnet. Sie waren so echt. Sie verströmten Faszination wie Adrenalin also blieb ich. Wir gingen in einen Wald, ausgerechnet, als wäre wir in einem Horrorfilm.“
Ich weiß nicht, was mich damals mehr ängstigte, die wilde Kraft mit der er mich unvermittelt an den Schultern packte, der irre Blick in seinen Augen als er tief  die meinen sah oder sein diabolisches lachen, das einen Schauer über meinen Rücken jagte. Es war ein Anfall und so schnell vorbei wie er begonnen hatte. Entsetzt über sich selbst ließ er sich schluchzend in den Sessel zurückfallen.
„Da war diese Lichtung, auf der sollte alles geschehen, so hat man mir es zumindest erklärt. Fragen wurden keine mehr beantwortet. So stand ich also auf der Lichtung und wartete, während um uns herum langsam die Dämmerung heranmarschierte und sich schwer auf die Kronen der Bäume legte. Mit einer gespenstischen Langsamkeit wuchsen die Schatten der Bäume ins Unermesslich, eine kriechende Dunkelheit der man nicht entfliehen kann, bis die ganze Lichtung ein Trog war, ein Behältnis, eigens für die Dunkelheit die da kam, mitten am Nachmittag. Ich war dumm, gedankenlos, zu sehr damit beschäftigt neue Eindrücke für mein Buch zu bekommen. Schließlich holten mich die anderen in die Mitte der Lichtung. Einen Kreis bildend nahmen sie mich in die Mitte.“
Wieder stockte mein Gast in seiner Erzählung und blickte mich schüchtern an. Offensichtlich erwartete er eine Reaktion von mir, vielleicht schallendes Gelächter und unter normalen Umständen hätte er das vielleicht auch bekommen, doch von dem Moment an als ich das Funkeln in seinen Augen gesehen hatte, waren es keine normalen Umstände mehr. Diese Augen hatten Dinge gesehen für die kein Mensch bestimmt war.
So fuhr er schließlich fort. „Es geschah lautlos. Wie ein samtener Vorhang legte sich die Dunkelheit über die Lichtung, sie war das substantielle Dunkel, überall um uns herum. Sie lag auf meinen Augen, ich atmete sie ein und sie durchdrang jede Pore meines Körpers. Doch das war nicht alles, viel schlimmer und grausamer war die Dunkelheit, die in mein Herz eindrang, die Dunkelheit die in mir war.“
Plötzlich sprang er auf und begann unruhig im Raum auf und ab zu gehen, hielt aber in seiner Erzählung nicht eine Sekunde inne und in seiner Stimme lag so eine Gewalt, so eine Inbrunst, dass ich nicht umhin konnte nach jedem Wort schon auf das nächste zu fiebern, immer dem Höhepunkt entgegen.
„Du kannst dir keine Vorstellung von dem Ort machen an dem ich war, schwebend im Nichts und je mehr Zeit verging, umso transparenter wurde die Dunkelheit, doch richtig lichtete sie sich nie. Ich sage dir, ich habe die Welt hinter dem Spiegel gesehen. Wie durch Rauchglas sah ich die seltsamsten Bilder, mehr Gefühle denn rein optische Eindrücke. Ich konnte das Alter dieser Welt spüren, es waren Äonen, dunkle Zeitalter. Und es sprach zu mir. Ich schwebte in der Dunkelheit und dann war es da, einfach in meinem Kopf. Es war das Wort, der Anfang und das Ende und das Wort kam zu mir, und durchschoss mich wie ein Pfeil, es waren Millionen von ihnen, jeder hatte einen Namen und sie kamen alle auf einmal zu mir, ich war sie und sie waren ich Es war als würde mich ein Auto streifen, nur war es der Kosmos selbst. Sie sind uralt, viel älter als die Begriffe die ich zu verwenden im Stande bin, ihre Macht spottet jeder Beschreibung und doch, sie sind nicht ganz hier.“
Eine Lüge war ausgeschlossen, entweder erzählte er mir die volle Wahrheit oder er hatte völlig den Verstand verloren, eine Grauzone gab es nicht mehr.
Eine Melancholie schlich sich in seine Stimme. „Kein Wesen im ganzen Kosmos kann sich vorstellen wie es ist so eine lange Zeitspanne da zu sein, die ewige Existenz für vernunftbegabte Wesen ist unvorstellbar, man könnte von Qual sprechen. Und sie sind schon seit Anbeginn. Doch sie selbst sind träge, müde, teile das Seiende nur mehr in zwei Sphären, jenes das sie sind und alles andere. Deshalb brauchen sie uns, die Leidenschaft der kurzen Explosion die unser Dasein für sie darstellt. Wir bahnen den Weg bahnen, für einen Augenblick, der für ihre Verhältnisse nicht einmal eine Nanosekunde ist, doch dafür würden sie alles tun. Das ironische dabei ist, wenn ich alles richtig verstanden habe, ist es der Mensch, dessen Geist eine unendlich große Kraft im Kosmos darstellt ist selbst die Barriere die die, die schon ewig hier sind, zurückhält. Normalerweise lauern sie am ausgefransten Rand des Daseins, wie Haie in seichtem Gewässer und holen sie von jenen, die sich zu weit hinauswagen, wonach sie sich verzehren. Dort, an den Ufern war ich und habe den Träger des Lichtes gesehen und sie haben mir zugeflüstert, dass er mich holen wird irgendwann.“
Mein Freund deutete zuerst auf sich selbst und dann auf mich. „Wir sind es was sie wirklich wollen, denn wir sind es die den sicheren Strand verlassen und ins tiefe Wasser waten einfach weil es da ist, dann verschwanden sie wieder aus meinem Kopf und die Dunkelheit zog sich zurück, doch widerwillig. Ich konnte spüren wie sie sich an mich klammerten, versuchte mich zu halten und schlussendlich unter einem Schrei, der die Grundfesten der Wirklichkeit erschütterte, losließ. Ich kam zusammengekauert auf derselben Lichtung wenige Stunden später wieder zu mir, alleine, was aus meinen Begleitern geworden ist weiß ich bis heute nicht. Doch seitdem trage ich viele dunkle Geheimnisse mit mir herum. Ich habe daraus ein Buch gemacht, ein sehr erfolgreiches Buch wie du sicher weißt.“
Plötzlich hielt er mitten in der Bewegung inne und setzte sich wieder in den Sessel. Schließlich nahm ich all meinen Mut zusammen und das ist wirklich nicht viel um die Frage zu stellen, die mir schon seit geraumer Zeit auf der Zunge brannte, nämlich warum er sich denn nun noch ängstigte, meiner Meinung nach hatten diese Leute ihm nur einen üblen Scherz gespielt, wahrscheinlich hatten sie ihm etwas in ein Getränk gemischt, eine Droge vielleicht und es ihm dann gereicht, so dass er diese Visionen hatte, wie sonst hätte er auf der Lichtung einfach so erwachen können?
Zitternd, beide Hände vor dem Gesicht, nur eine kleine Ritze, damit er mich sehen konnte, freigelassen, so saß er nun vor mir und schüttelte den Kopf.
„Nein, nein. Der Träger des Lichts, des Todeslichts, eilt schon umher auf Erden. Du kennst mein dunkelstes und grausamstes Geheimnis noch nicht. Ich habe dir erzählt, dass die Dunkelheit damals von mir abfiel, und wie sie sich dagegen wehrte, doch das ist nur die halbe Wahrheit, es gibt einen Ort von dem sie nie gewichen ist, wo sie sich eingenistet hat und gedeiht.“
Bedeutungsschwer blickte mich an und deutete schließlich auf sein Herz. Nie in meinem Leben lief mir je ein solcher Schauer über den Rücken und lieber würde ich mich vierteilen lassen als diesen Augenblick noch einmal erleben zu müssen. Meine Reaktion mit einem Seufzer quittierend fuhr er fort.
„Dort lebt sie weiter, denn wer einmal mit dieser Dunkelheit in Berührung gekommen ist, wird sie nie wieder los. Und dadurch weiß ich, dass er gekommen ist. Eines Nachts, nach dieser seltsamen Begebenheit, erwachte ich plötzlich schweißgebadet aus dem Schlaf ohne sofort einen Grund dafür zu haben, weder ein Albtraum noch ein Geräusch im Haus hatte mich geweckt, bis ich zu meinem Herzen blickte. Dort war sie, die pulsierende Dunkelheit, selbst im finsteren Schlafzimmer war sie tausendmal intensiver als jede Nacht. Und ich spürte wie der Lichtträger mit letzter Kraft das Portal öffnete und durch die Wand stieg, herüber in unsere Welt. Die Dunkelheit in meinem Herzen ist eine Verbindung und mein Untergang. Durch sie wird er mich finden, es gibt keine Rettung für mich. Dennoch musste ich mit jemandem darüber reden, vielleicht ist es nur das letzte Klammern an den Strohhalm, aber vielleicht wird er von mir ablassen, wenn wir zu zweit sind, keiner kann sagen wie sie reagieren.“
Es wurde ruhig in meinen Wohnzimmer, sehr ruhig. Man hätte wahrscheinlich das Fallen einer Stecknadel gehört, aber auf jeden Fall das Ticken der Uhr in der Küche zwei Zimmer weiter. Und das Atmen. Es war das Atmen zweier Psychopathen die kurz davor waren vollkommen durchzudrehen.  Ich bin mir sicher, dass ich noch an Ort und Stelle den Verstand verloren hatte, wenn ich nicht aufgestanden wäre und etwas gesagt hätte. Ich weiß nicht mehr was es war, aber ich bot ihm an für einige Zeit bei mir zu wohnen. Obwohl ich zuerst nicht glaubte, dass er mein Angebot annehmen wurde, sagte er überraschend schnell enthusiastisch zu. Für einen kurzen Augenblick wich die Resignation echte Freude, ich konnte durch den Schleier aus Angst, Einsamkeit und Panik den richtigen Jack Wagner sehen, einen jungen Mann mit dem ich sehr wohl hatte befreundet sein können, wenn wir uns unter anderen Umständen begegnet wären.
Es würde zu weit fuhren die nächsten Tage ausführlich zu beschreiben, all diese kleinen Dinge die passieren wenn man plötzlich mit einem fremden Menschen zusammenlebt. All die Anfälle von Panik unter denen Jack zu leiden hatten, die vielen schlaflosen Nächte, weil er wie ein Geist im Haus umherirrte und mich wach hielt weil er Angst vor dem Alleinsein hatte. Aber alles in allem kamen wir überraschen gut miteinander aus, obwohl ich ehrlich zugeben muss, dass es mir in den ganzen Wochen die er bei mir lebte nie mehr gelungen war den Schleier aus dunklen Wolken, der ihn stets zu verhüllen schien, zu lüften, vielmehr kam es mir so vor, als wäre er langsam auf dem besten Weg dazu das Schicksal, welches er als für sich als auserkoren ansah, zu akzeptieren. Und jeder der schon einmal über sich selbsterfüllende Prophezeiungen gehört hat, weiß, was für fatale Folgen solch eine Handlungsweise haben kann. Aber irgendwie wurde ich langsam abgestumpft gegen die Anfälle meines Gastes, gegen die Visionen aus der Welt hinter dem Spiegel, wie er sie hartnäckig nannte. Ich weiß nicht mehr wann es war, vielleicht im vierten Monat unserer Hausgemeinschaft, als ich begann die Türe vor ihm zu verschließen sobald die Sonne im Meer verschwunden war.
Irgendwann, ich kann leider kein genaues Datum mehr nennen, zu sehr habe ich versucht dies alles hinter mir zulassen und ein neues Leben zu beginnen, war es wieder einmal besonders schlimm mit ihm. Es war ein sehr kalter Tag, ungewöhnlich kalt. Mein Haus, sonst ein warmer behaglicher Ort, schien kaum angenehmer zu sein, als der Anblick des bleigrauen Himmels über uns, sogar die Vögel weigerten sich aufzusteigen und blieben in den Bäumen, wo sie sich zusammen kauerten und warteten. Ich verbrachte den gesamten Tag in meinem Arbeitszimmer, vor dem Bildschirm, doch selbst die Worte, die sonst mühelos flossen, wollten nicht. Irritiert und auch etwas beunruhigt verfolge ich durch das Fenster den Lauf der Sonne, doch selbst dieser Anblick, sonst Bunt und immer wieder eine Erfrischung für alte und müde Seelen, erschien mir sonderbar fahl und grau. Die Energie in der Luft war förmlich greifbar.
Jack riss mich aus den trüben Gedanken als er mehrmals an meiner Türe klopfte und versuchte mich dazu zu bringen sie für ihn zu öffnen. Aber ich wollte hart bleiben, zu seinem Besten. Schließlich zog er auch wirklich unter lautem Gejammer ab und schlich durchs Haus, von einem Zimmer zum anderen. Es ist schon sonderbar wie laut doch Schritte in einem vollkommen ruhigen Haus klingen wenn man sich auf nichts Anderes konzentriert. Als ich schließlich einschlief wurde ich von seltsamen Träumen geplagt.
Mir träumte, dass ich in einem dunklen Gang stand, ich kannte den Gang, es war mein Mutterhaus an einem weit entfernten Ort, doch als ich versuchte das Licht anzumachen fand ich den Schalter nicht, also stieg ich blind die Treppe hinauf, unsicheren Schrittes errichte ich schließlich das obere Ende und ging weiter durch mein Kinderzimmer, durch das man ins Elternschlafzimmer gelangte. Dort angekommen wollte ich wieder versuchen Licht anzumachen, doch eine innere Stimme warnte mich davor und ich wusste, wenn ich es tat würde ich Dinge sehen, die nie gesehen werden durften, dennoch griff ich nach dem Schalter und erwachte.
Schweißgebadet und verwirrt erwachte ich. Immer noch das laute Pochen meines Herzens im Ohr fragte ich mich, was der Sinn dieses Traumes gewesen sein konnte. Viele Jahre war ich nicht mehr in diesem Haus gewesen, meine Familie war lange vor meiner Volljährigkeit dort ausgezogen, dennoch hatte ich mich in dem Traum an jede Einzelheit erinnern können.
Mit Entsetzten wurde mir klar, dass es nicht mein Herz war, das ich da pochen hörte, sondern Jack an der Türe, während er panisch um Hilfe rief. Vor den Fenstern tobte ein wilder Sturm, immer wieder sah ich ganze Äste von Bäumen im Mondlicht umherwirbeln, Millionen von Blättern die vom Wind hin und her geschleudert wurden und immer wieder Jacks heisere Schreie. Wütend erhob ich mich aus meinem Bett, stellte die Nachttischlampe an und suchte nach meinen Pantoffeln.
Bevor ich zur Türe gehen konnte, ging das Licht in meinen Zimmer mit einem letzten Flackern aus. Wie von Geisterhand erlosch jeder Lichtschein, selbst der Mond schien dunkler zu werden. Jack verstummte abrupt, als schwere Schritte zur Treppe hinaufkamen. Wie gebannt starrte ich auf die Wand, nur wenige Zentimeter zwischen mir und meinem Hausgenossen und doch schienen wir Welten voneinander entfernt zu sein, fast so, als wäre er schon hinter dem Spiegel. Ich weiß nicht, ob ich etwas ändern hätte können, wenn ich etwas getan hatte, doch ich blieb einfach stehen und blickte durch die Wand, tatsächlich durch die Wand. Es war so, als sollte ich dies sehen.
Es war der Lichtträger der da über die Treppe kam. Jack folgte ihm mit seinen Blicken, wie ein Frosch der mit der Taschenlampe angeleuchtet wurde. Der Fremde war ein Jüngling, keinen Tag älter als siebzehn, doch seine Kleidung schien aus einer anderen Zeit zu sein. Eine dicke Bärenfellmütze über dem blonden Haarschopf dessen Spitzen darunter hervorblinzelten, einen Lederwams, altertümlich Stoffhosen, Mokassins und eine uralte Handlampe die an einer rostigen Ketten hin und her schaukelte. Durch das schmutzige Glas der Lampe brannte sich der Schein einer Kerze. Doch es war kein normales Licht, es hatte diesen bläulich-violetten Schein, den es nur einmal geben kann,  so kraftvoll, dass er mir sogar durch die Türe Schmerzen bereitete. Als er Jack naher kam, krümmte sich dieser vor Schmerzen. Mit jedem Schritt des Lichtträgers sank Jack mehr in sich zusammen mit einer gespenstischen Langsamkeit und Ruhe, alles ohne Ton und in Zeitlupe ablaufen. Die ganze Zeit über hatte der Eindringling ein apartes Lächeln auf den Lippen, so als wäre er mit dem Geist ganz woanders. Schließlich sank Jack endgültig zu Boden und blieb liegen. Die Kerze erlosch und der Lichtträger kniete neben Jack. Ganz ohne Hast setzte er die Lampe auf die Brust meines  Freundes und mit vor Entsetzen geweiteten Augen wurde ich Zeuge wie die Seele aus Jacks Körper heraus in die Lampe gezogen wurde. Dieser Moment brannte sich in mein Gedächtnis, eine kleine Wolke aus schwarzem Licht. Diese Wolke war alles, was einmal Jack gewesen war, reiner Geist. Als sie weg war wusste ich, dass Jack wirklich und wahrhaftig ausgelöscht war, nicht tot, sondern ausradiert aus der Existenz. Der Lichtträger nahm die Lampe und wandte sich der Treppe zu, doch bevor er endgültig aus meiner Welt verschwand, wandte er sich noch einmal und blickte mich an, es kam mir mehr wie
ein Versprechen denn eine Warnung vor. Vielleicht auf ein Wiedersehen im der Zukunft? Ich wusste es nicht.
Schließlich rief ich die Polizei und gab an, verdächtige Geräusche in meinem Haus gehört zu haben. Die Beamten fanden Jack schließlich so vor der Zimmertüre, wie ich es gesehen hatte. Natürlich erzählte ich ihnen nicht was ich gesehen hatte. All dies ist mein Geheimnis, niemand kennt es und nie sollte einer sie erfahren. Jack war tot auch wenn niemand wusste wieso, es war ein Rätsel. Ich habe das Haus, die Stadt, sogar das Land verlassen, bis ich glaubte ich hätte die Schatten endgültig hinter mir gelassen. Ich glaubte die Vergangenheit ausgelöscht zu haben. Ich lebe noch, irgendwie. Glücklich in meiner Einsamkeit. Bis heute.
Ich hätte es spüren müssen, es war dieselbe Energie wie damals als Jack starb. Wenn ich des Haus nicht verlassen hätte, wäre ich dem Lichtträger vielleicht nicht begegnet. Er war zwar alt, auf einem ebenso alten Fahrrad, aber ich glaube nicht, dass es für diese Wesen ein Problem darstellt alles zu sein was sie wollen. Und ich glaube ich weiß auch, warum er wieder hier ist, er will mich warnen und sein Versprechen erneuern. Wer weiß, vielleicht reicht es ja schon aus mit jemandem zusammen zu sein, der die Dunkelheit in sich trägt, um selbst davon befallen zu werden. Wir sind sicher ein guter Nährboden für das Dunkle. Seit heute weiß ich, dass der Träger des Lichts mit seiner alten Lampe mit eines Tages holen wird. Vielleicht ist das sogar gut so, denn ich habe hier und heute beschlossen nicht so wie mein alter, toter Freund zu Ende – halb wahnsinnig vor Angst, immer auf der Flucht. Ich werde leben, schreiben und in dieser Welt mit beiden Beinen stehen. Wenn er dann kommt, und das wird er, kann ich gehen in dem Wissen, dass ich alles getan habe wozu ich im Stande war. Vielleicht ist das die einzige Methode ihm zu entgehen und verfolgt werden wir doch alle irgendwie. Der Vergangenheit kann man nicht entkommen.

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