In meinem Leben habe ich schon viele Stunden in Bussen verbracht. Manche Reisen kurz, gerade mal eine halbe Stunde oder weniger. Die mochte ich eigentlich nicht so gerne. Umso kürzer die Fahrt umso mehr steht das Ziel im Mittelpunkt. Das Ziel ist aber auch ein Ende mit Enden habe ich es nicht so. Andere Fahrten waren lang, mehr als zwölf Stunden. Die hatten dann immer etwas Besonderes an sich. Vielleicht liegt es an diesem Gefühl die Kontrolle abzugeben, sich einfach fallen lassen zu können und trotzdem nicht an einem Punkt zu bleiben. Diese Gewissheit, dass, egal was ich jetzt tue, die Reise weitergeht, ich träumen kann. Und dabei träume ich selten vom Ziel. Tatsächlich ist es so, dass die Ankunft für mich der schlimmste Teil der Reise ist. Wenn ich hinaus muss, Entscheidungen treffen, hinein in die Hektik einer neuen Situation die ich noch gar nicht so richtig abschätzen kann. Aus demselben Grund bin ich auch sehr gerne Beifahrer im Auto. Dann möchte ich am liebsten für immer unterwegs sein, die Straße unter mir, ohne Ziel, einfach nur in Bewegung. Klingt das seltsam? Vielleicht. Kann sein, dass mit mir etwas nicht stimmt, eine Art Fluchttrieb in mir, den die Fahrt nährt. Darüber nachzudenken macht mich traurig.
Dennoch, Busreisen sind mir die liebsten. Nicht unbedingt zu Beginn. Alle sitzen auf ihren Plätzen, sind laut, reden, essen, spaßen miteinander. Das Gewirr von Stimmen und hektische Aktivität um mich, während ich einfach nur dasitze und meinen Gedanken nachhänge. Wortfetzen dringen an mein Ohr, zerren unsanft und rüpelhaft an meiner Aufmerksamkeit. Ich spüre dann wie mein Körper, mein Geist, meine Seeler immer kleiner werden, zusammensinken in dem Polstersessel bis nur mehr ein kleiner Ball übrig bleibt. Vergessen und übersehen. Meist geht das den ganzen Tag so, bei langen Busreisen. Woher nehmen die Menschen nur diese Energie? Könnte ich das auch, wenn ich nur wollte? Wenn man mich einbeziehen würde? Wenn ich mich einbeziehen ließe?
Wenn sich die Sonne aber dem Horizont näher, dann kommt meine Stunde. Erschöpfte Lichtfinger greifen nach mir durch die Fenster, versuchen mich zu blenden und ich weiß, dass jetzt die Ruhe kommen wird. Sie senkt sich schleichend über den Bus. Einzelne Stimmen versagen, klinken sich aus dem Strom der endlosen Konversationen aus. Manche halten länger durch als andere. Tuscheln noch wenn sich längst Dunkelheit über die Welt gelegt hat. So stelle ich mir auch das Ende aller Dinge vor. Langsam gehen die Lichter aus, eines nach dem anderen und dann ersterben die Stimmen, bis nur mehr die unsichtbaren Funkwellen verrückten Radioprediger über einer stummen Wüste schweben. Meistens macht der Fahrer zu Beginn noch die Lichter in der Kabine an aber irgendwann werden auch diese Gedimmt und heilendes Zwielicht fällt über die erschöpften Gesichter der Fahrgäste. Manche schlafen schon. Mit offenen Mündern und hängenden Backen. Eingerollt um sich selbst oder steif und fest in den Sitz gepresst. Manche Grimasse wird auf Film festgehalten. Ich frage mich weshalb. Sehen wir nicht alle manchmal komisch aus wenn wir schlafen? Auch die letzten setzen über in das Land der Träume. Trinken den Sud des Vergessens. Dem Fährmann wurde wohl der Obolus entrichtet. Wer nicht zahlt kommt auch nicht zurück. Das ist meine Zeit. Langsam kann ich mich entspannen. Ich sein. Frei. Mein Körper, mein Geist und meine Seele wachsen an. Aus der kleinen, verängstigten Kugel wird ein Mensch. Groß wie ein Berg, stolz wie eine Statue. Ich sehe mich um und alles ist friedlich. Dunkelheit strömt durch die Fenster wie warmes Wasser und der Fahrer lauscht den leisen Melodien aus dem Radio. Er summt manche davon mit. Irgendwie mag ich das und muss selbst etwas lächeln. Mit verstohlener, kaum unterdrückter Freude ziehe ich Papier und Bleistift aus dem Rucksack, den ich die ganze Fahrt über eng an mich gedrückt hielt. Dies ist meine Stunde des Wolfes, jene Zeit zwischen Mitternacht und Morgenröte in der es nur mich gibt. Und meine Gedanken. Ich reise durch Raum und Zeit. Lausche auf die leisen Geräusche des Lebens um mich. Dann kann ich Teil davon sein. Teil der Bruderschaft des Menschlichen und ich habe den Anflug eines Schimmers von Verstehen. Rätsel entfalten sich vor mir wie Origami-Figuren. Die Form, die ich nicht verstand, wird wieder zu einem weißen Blatt Papier. Die Melodien in meinem Kopf werden zu Texten und die Texte zu Geschichten. Es fällt einfach alles richtig, kommt zusammen. So als würde ich Mikadostäbchen nehmen, fallenlassen und darin eine Botschaft erkennen. Meine besten Ideen sind so entstanden. Mitten in der Nacht. Auf einer Fahrt ins Ungewisse. Meisten sind das düstere Geschichten, klar. Aber wie Stephen King schon sagte – wieso nimmt man an, dass der Schreiber eine Wahl hätte? Und die Schlafenden um mich herum haben nicht die geringste Ahnung, welche zentrale Rolle sie in diesem Schauspiel inne hatten. Sie werden es auch nie erfahren. Wen sollte das schon interessieren? Über mir ziehen die nächtlichen Wolken hinweg, vielleicht kann ich sie durchs Fenster beobachten. Jede davon weiß etwas zu berichten und wenn man sie lange genug beobachtet spielen sie für dich. Jemand hat mal zu mir gesagt, dass es deshalb so berauschend ist die Nacht wachen Geistes zu erleben, weil es ein gewisses Gefühl der Überlegenheit bietet. Das glaube ich nicht. Es geht nicht um Überlegenheit oder Macht. Vielmehr ist es das Gefühl Teil von etwas zu sein, von etwas Großem. Normalweise überdeckt der Lärm der Welt, die Geräusche des Lebens, dieses zarte Gefühl. Wenn man die Augen in der Dunkelheit offen hält, kann man alle möglichen Dinge erleben. Dieses Gefühl, dass es da etwas gibt, eine Energie die uns alle zusammenhält, verbindet und diese riesige Aufführung, die wir Leben nennen, ermöglicht. Der Vorhang hinter Bühne lüftet sich ein winzig kleines Stück und man erhascht einen Blick darauf wie es sein könnte. Die Masken werden abgenommen. Und für eine Mikrosekunde wird dieses Leben wirklich schön.
Natürlich geht das auch wieder vorbei. Wenn die Nacht ihrem Ende entgegeneilt beginnen sie wieder zu erwachen. Alle die Menschen um mich herum. Sie strecken sich. Zeigen sich gegenseitig die Bilder der Schlafenden, freuen sich an den Peinlichkeiten offener Münder und Speichelfäden an Kinnen. Es wird wieder laut um mich herum. Papier und Bleistift flüchten sich in den Rucksack wie nachtaktive Tiere in ihre Höhlen. Die Worte werden bleiben, egal was passiert. Deshalb liebe ich Busfahrten. Wegen der Nacht und der Freiheit. Wegen dem Gefühl unterwegs zu sein und niemals irgendwo ankommen zu müssen. Wäre es möglich ewig zu fahren? Oder würde man irgendwas aus der Stunde des Wolfes gestoßen und erkennt, dass man vor lauter Reisen nie gelebt hat? Wer auch immer geschrieben hat, dass man vor den Problemen nicht davonlaufen kann, hat offensichtlich nie als einzige wache Personen eine Nachtfahrt im Bus erlebt.
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