Ich mag Twitter, es ist der nächste Schritt in eine Richtung die ich  immer begrüßt habe, ein Marsch in dessen frühen Kindertagen die  Messageboards des Internets standen und der irgendwo in die Nebel der  Zukunft vortgesetzt werden wird. Diese Technologie bietet uns die  Möglichkeit Menschen zuzuhören, deren Gedanken uns ansonsten für immer  verschlossen geblieben wären und damit meine ich nicht Ashton oder Demi  sondern ganz normale Menschen wie du und ich, die plötzlich in der Lage  sind ihre oft höchst interessanten Gespräche, Monologe und  Selbstgespräche der Welt zu öffnen. Für manche war das früher schon  möglich aber dazu brauchten sie einen wirklich großen, bemerkenswerten  Initialgedanken und die richtige soziale Position – Sokrates, Seneca,  Goethe, Mark Twain – sie gehörten zu jenen Auserwählten und es bildete  sich langsam der Konsens, dass nur große Persönlichkeiten solche  Gedanken haben konnten. Twitter ist diesbezüglicheine Lektion die uns  eines Besseren belehren sollte. Dass dabei auch viel Unsinn produziert  wird versteht sich von selbst aber es bleibt eine Tatsache, in meiner  bisherigen Zeit bei Twitter bin ich erstaunlichen Einsichten begegnet,  manche davon Variationen von schon Bekanntem, andere unbeschreiblich  originell. Überzufällig häufig kommen jene spontanen Einsichten in meine  Timeline. Ich würe auch jedem der mich fragt anraten selbst einen  Twitter Accout zu eröffnen und ein paar Tweets zu verfassen. Sicher, die  ersten Posts werden eher wackelige Versuche sein aber mit jedem Tweet  schärft sich der Verstand des Verfassers, sofern dieser ernst gemeint  ist, wer über seine letzte Suppe tweetet kann unterhaltsam sein wird  aber kaum tiefere Schichten des menschlichen Zustandes ankratzen. Meiner  Ansicht nach verschafft uns ein vorurteilsfreier, offener Umgang mit  Twitter und den eigenen Posts einen Zugang zu unserer inneren  Erzählstimme, jener Instanz von der Autoren, zu denen ich mich an meinen  besseren Tagen beinahe zähle, behaupten, sie sei die Quelle aller  literarischen Werke – ich möchte an Stelle angemerkt wissen, dass nicht  wenige Schreibschulen überraschend viel Zeit damit verbringen dem  Novizen Wege zu seiner inneren Erzählstimme zu finden. Sie ist auch eine  Art inneres Fundamt auf dem alles abgegeben wird was im Laufe des Tages  durch die Maschen unseres Bewusstseins fällt – also ein Ort voller  Wunder und unbezahlbarer Schätze.
Aber wem folgen? Für Personen die Twitter nicht kennen mag das  Konzept von Followern mysteriös erscheinen, einer meiner eher  technophoben Freunde mutmaßte sogar eine Art Jüngerkult dahinter.  Mitnichten sage ich. Follower sind nur ein anderer Ausdruck für  „Zuschauer“ oder „Zuhörer“, auch wenn die Begriffe zu eingeschränkt  sind, da aus einem Follower durchaus ein gleichwertiger Partner werden  kann wenn sich die beiden gegenseitig folgen und die alte Kunst der  Kommunikation aufleben lassen. Also nun die Frage – wem folgen? Wenn man  keine Kerngruppe hat von der aus man sein Twitterium aufbauen kann ist  es unter Umständen schwierig neue Leute kennenzulernen und Teil deren  Netzwerk zu werden und schließlich sind auch Millionen von Twitterern  unterwegs deren Ansichten und Einsichten sich teilweise sowohl  qualitativ als auch quantitative um den Faktor Zehn unterscheiden.
Was mich betrifft so war eine Mischung aus Drive-by Following  und  Netcrawling durchaus brauchbar. Zu Beginn meiner Karriere in Twitter  begab ich mich auf die Suche nach interessant klingenden Leuchten (aber  keine Prominenten, also niemanden der ein Team von professionellen  Schreibern um sich hat – es überrascht wie wenig qualitativ hochwertiges  Material sogenannte Prominente produzieren) – diesen Personen folgte  ich dann. Schon diesem ersten Schritt war ich überwältigt von der Fülle  an Informationen, Gedanken und kurzen Einblicken in die Psyche anderer  Menschen Dann beobachtete ich mit welchen Personen diese in Kontakt  standen und begann so meine Liste an Personen denen ich folgte immer zu  erweitern. Es ergab sich eine höchst komplexe Struktur von Kontakten. So  folge ich mittlerweile einer eklektischen Mischung aus Technikern,  Gymnasiasten, Freizeitphilosphen und anderen,  die im wirklichen Leben  wahrscheinlich nie mit mir geredet hätten. Ich höre ihnen zu, ab und an  nehme ich auch direkten Kontakt auf, mit durchaus wechselndem Erfolg.  Einige von ihnen sind würdige Lehrer, andere lustig und traurig aber  jeder auf seine Art interessant.
Irgendwann habe ich den Punkt erreicht an dem meine Timeline (eine  Art Bewusstseinsstrom in Twitter in dem alle Posts jener, denen ich  folge, gebündelt sind) begann auszusehen wie das innere meines Gehirns  nach mehreren Kannen schwarzen Kaffees. Also habe ich Listen  eingerichtet, sehr hilfreich um die Posts einzelner Tweeter zu  gruppieren und wir wissen doch alle, dass Menschen Schubladen lieben –  was anderes sind Listen auch nicht, glorifizierte Schubladen.
Die Gefahr auf Twitter, wenn es denn eine gibt, ist, dass man den  Boden unter den Füßen verliert und zu glauben beginnt, jedes  Selbstgespräch würde ständig und jederzeit gesehen und bewundert werden.  Ja, Twitter ist auch eine Narzissmus Maschine (könnte man auch von  Spiegeln behaupten und gegen die hat in der Regel keiner was, außer ein  paar sehr seltsamer Religionsgemeinschaften über die ich aber in einem  späteren Eintrag schreiben werde).  Man folgt Menschen, ist bald sehr  fasziniert von ihnen und möchte, dass die im Gegenzug auch von einem  fasziniert sind. Wenn das nicht passiert kommt schnell Frust auf, man  fühlt sich dann unter Umständen noch einsamer als zuvor weil man nun  weiß, was da draußen ist, welches Potential die Twittergemeinschaft hat  und irgendwo tief drinnen weiß jeder, dass er, wenn er nur ne Chance  bekäme, der strahlendste Stern von allen sein könnte. Ihr wisst schon,  einzigartig wie eine Schneeflocke und so ein Mist – in diesem Bild ist  Twitter übrigens der Flammenwerfer. Man spürt wie nahe die anderen sind  und doch bleiben sie in den meisten Fällen ungreifbar – seien wir mal  ehrlich, die Leute, die wir auf Twitter am meisten verehren würden nicht  für Geld einen Abend mit denen verbringen, die ihnen folgen. Das nennt  man soziales Netz – es gibt zentrale Knoten und periphere Knoten, nicht  jeder kann ein zentraler Knoten sein, ebenso wenig wie in einem Stamm  jeder Häuptling sein kann.
Die höchste Stufe der emotionalen Involviertheit stellt wohl das  Verlieben in einen anderen Twitterer dar, idealerweise jemand der auf  der GAS (GoShoo Attrativitäts Skala) ganz oben steht während man selbst  im einstelligen Bereich herumgurkt (ja, ich sehe dabei mich selbst an).  Dieses Verlieben, wie auch immer die Attraktivität gelegen ist, kommt  gar nicht so selten vor wie man meinen würde.
Grundsätzlich klingt die Idee ja nicht schlecht, man verliebt sich in  jemanden wegen dem was er sagt, seinen WORTEN, von der sozialen  Erwünschtheit her absolut top. Wunderschön und beinahe poetisch. Dennoch  sind wir meiner Meinung nach in einer Grauzone (willkommen in meiner  Welt, einfach Gut/Schlecht gibt es da wohl nicht). Es ist zentral im  Kopf zu behalten, dass das, was der andere da von sich gibt hoch  gefiltert ist, zumindest mehr als die Ergüsse von jemandem auf einer  Tequila-Party an der Bar. Unser armer potentieller Tweeter verliebt sich  unter Umständen in das Ideal, welches das Objekt der Begierde von sich  nach außen getragen haben will. Dazu kommt noch eine ganz perfide  Angelegenheit die ich hier mal ganz psychologisch als  Nähe-Distanz-Regulation bezeichnen möchte. Im Grunde ist es ein  Regelkreis, der dafür sorgt, dass wir immer die Nähe bzw. Distanz zu  anderen Menschen bekommen die wir brauchen. Dieses System reagiert zum  Beispiel darauf wenn uns jemand physisch zu nahe kommt, wir weichen aus,  gehen auf Distanz bis wir unseren idealen Abstand erreicht haben. Es  gibt da zwei fundamental unterschiedliche Möglichkeiten Nähe/Distanz zu  regulieren, einmal auf der bekannten physischen Ebene, körperlich – wir  gehen also weg, bringen mehr oder wenige Raum zwischen uns und andere.  Dann gibt es aber noch die psychische Ebene – die ist viel subtiler kann  im Lift jedoch gut demonstriert werden. Die Situation in einer  Liftkabine ist für die meisten Menschen bezüglich Nähe/Distanz  suboptimal, körperlich lässt sich aber nichts machen, die Kabine ist  eben so groß wie sie ist – also kommt die psychische Ebene ins Spiel,  die Leute versuchen den Blicken der anderen auszuweichen, Gespräche  werden eingefroren und im Kopf gehen nicht wenige die Einkaufliste oder  sonst was durch, nur um die nötige Distanz herzustellen, eben psychisch.  So, jetzt kennen wir das System in eine Richtung aber es geht auch in  die andere – wenn zu wenig Nähe bzw. zu viel Distanz da ist rücken wir  automatisch zusammen, fällt in der Regel nicht auf aber im Internet  macht es sich sehr wohl bemerkbar. In jeder Interaktion im Internet  fehlt die Komponente der körperlichen Nähe zum Kontaktpartner, also  neigen wir ganz automatisch dazu psychisch Nähe zu erzeugen, wir sagen  Dinge, die wir normalerweise für uns behalten würden, es entsteht ein  illusorisches Gefühl der Intimität. Verlieben ist dadurch noch leichter.
Was ist nun, wenn die Twitter-Schwärmerei nicht erwidert wird? War  sich unser Twitter-Romeo doch so sicher, dass genügend Intimität da ist  und jeder seiner Tweets nur so vor Genialität strotzt. Dummerweise  unterstützt die Struktur aller virtueller sozialer Netzwerke das, was  wir im richtigen Leben als Stalking beschreiben würden, tatsächlich lebt  Twitter sogar in gewissem Sinne von dem kleinen Stalker der in jedem  von uns wohnt. Man folgt Personen, ohne dass diese notwendigerweise  davon wissen oder gar einverstanden wären. Schlimmer als unerwiderte  Liebe ist nur unerwiderte Liebe ohne eine klare Zurückweisung. Nicht  umsonst gehört das „Lass uns Freunde bleiben“ zu den gefürchtetsten  Sätzen überhaupt, denn es stellt keinen klaren Schlussstrich dar, es  lässt Möglichkeiten offen. Liege solche Verhältnisse nicht vor (und wie  sollte das bei einer Follower-Struktur wie  Twitter auch möglich sein?)  haben wir alle Zutaten für einen hübschen Schwelbrand unter der  Oberfläche. Der Ausgang ist ungewiss.
Daher mein Rat an alle momentanen und zukünftigen Twitternauten: Wenn  ihr jemandem folgt haltet eure Erwartungen im Zaum, sagt euch immer  wieder, dass diese Person wahrscheinlich nicht mit euch essen gehen  würde, selbst wenn er/sein wüsste, dass ihr existiert. Lernt die anderen  Twitterer kennen. Schafft eine persönliche Basis die nicht auf  künstlicher Intimität zur Nähe-Distanz-Regulation fußt. Wir sind ja alle  nur Menschen.
 
 
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