Sonntag, 3. April 2011

Protagonisten

Langsam las Lexia die Worte in ihrem Geist, die jemand auf diese Gusseiserne Tafel gezaubert hatte. Immer wieder nahm sei einen Zug von ihrer unruhig im Wind flimmernden Zigarette.
Die Buchstaben auf der Tafel schön gearbeitet und verschnörkelt, nicht normale Großbuchstaben wie man sie heute auf einer solchen Platte gegossen hätte.
„Dieses Monument soll an die Jahre 1809 bis 1822 erinnern. In diesen dreizehn Jahren arbeiteten viele Männer an der Regulierung Warengberger-Flusses, ihnen ist eines der größten technischen Meisterwerke unseres Jahrhunderts zu verdanken.“
Die Tafel war auf einem alten Granitblock mit schweren Eisenbolzen festgemacht worden. Weder die Jahre noch das raue Klima dieses Ortes hatten diesem Monument etwas anhaben können – bis auf etwas grünes Moos und einer leichten Verfärbung der Tafel hätte man glauben können sie wäre erst vor ein paar Tagen aufgestellt worden. Irgendwie imponierte ihr die raue, unbehauene Schlichtheit des Zeitzeugen.
„Faszinierend, nicht wahr?“ Fragte ein Mann der sich unbemerkt genähert hatte und nun beinahe Schulter an Schulter mit dem jungen Mädchen stand. Sie musterte ihn nur kurz zwischen zwei Zügen von ihrer Zigarette und ließ ihren Blick dann wieder über die Tafel schweifen. Ihm entging jedoch nicht das unstete Zittern ihrer Hände und das unnatürliche Weiß ihrer Fingerknöchel – es schien beinahe so als würde sie sich an Zigarette klammern. Ohne sich um ihr Schweigen zu kümmern zog der Fremde ein grünes Päckchen aus der Brusttasche seines Hemdes und zog etwas daraus hervor. Lexia erkannte aus dem Augenwinkel sofort, dass es eine Mentholzigarette war – und wenn sie es nicht gesehen hätte, dann hätte ihr es der scharfe, nach Minze schmeckende Rauch verraten, der ein kurzes Klicken später in ihre Richtung zog. Genüsslich zog der Mann an dem weißen Stängel und ließ eine blaue Rauchwolke in den bleigrauen Himmel aufsteigen. Das Wetter schien hier nie anders zu sein – fast so als kannte der Himmel über diesem Dorf keine Andere Farbe als das Grau von geschmolzenem Blei und trotz allem regnete es nur selten.
Ein kalter Windhauch ließ den Mann etwas frösteln und er zog den langen, schwarzen Wollmantel etwas enger um seinen hageren Körper.
„Es wundert mich immer wieder, dass dieser Block einfach allem trotzt was man ihm entgegenstellt. Schon als ich ein Kind war kamen wir hierher und sind darauf herumgeklettert – jedes Mal sind ein paar kleine Brocken abgebröselt und trotzdem, obwohl das sicher schon Generationen so sehr, scheint der Steinen keinen größeren Schaden zu nehmen. Manchmal kommt er mir kleiner vor als früher, aber das liegt wohl daran, dass ich jetzt wesentlich älter und größer bin als damals.“ Um seinen Satz zu beenden blies er eine weitere Rauchwolke in den Himmel.
„Ich bin zum ersten mal hier,“ ließ Lexia ihre ersten Worte vernehmen seit der Fremde neben ihr aufgetaucht war und aus dem Nichts ein Gespräch begonnen hatte. „Eigentlich hatte ich nicht vor irgendwelche Sehenswürdigkeiten zu besuchen, aber als ich hier entlangspaziert bin ist mir der Stein aufgefallen, also bin ich hierher gekommen und irgendwie fasziniert er mich.“ Nickend trat der Fremde einen Schritt näher zu dem Stein und ließ seine von der Kälte geröteten Finger über die raue Oberfläche der Tafel gleiten: „Ja, dieser Stein hat eine seltsame Anziehungskraft auf alle die in seine Nähe kommen. Deshalb hat man auch nie Erwägung gezogen ihn zu entfernen, obwohl er der einzige Grund ist, warum der Minigolfplatz dort drüber noch nicht erweitert worden ist.“ Lexia sah in die Richtung, in die der Fremde gedeutet hatte. Da war wirklich ein Minigolfplatz, umrahmt von einem niedrigen Maschendrahtzaun auf der einen Seite und von einer Reihe hoher Kastanienbäume auf der anderen Seite. Der Platz wirkte Tatsächlich ein wenig klein und auch ein bisschen heruntergekommen. Sie schätze grob, dass es wohl achtzehn Bahnen gab, auf denen man einen Ball durch mehr oder weniger schwere Strecken zu einem Loch bringen konnte. Die Beläge vor den Bahnen waren einmal rot gewesen, so wie die Aschebahnen in Sportstadien, doch jetzt präsentierten sie sich nur mehr n einem verblassten Orange. So wie alles in diesem Ort schien der Minigolfplatz nur wenig benutzt zu werden. Im Hintergrund schaukelten einige Boote im Becken des Jachthafens.
„Dieser Stein,“ fuhr der Fremde fort, „ ist ein Originalstück von dem Teil Land das sie sprengen mussten um dem Fluss sein neues Becken zu geben.“ Er deutete vage auf eine Spur im Stein die Lexia bisher für eine natürliche Formation gehalten hatte doch jetzt wurde ihr klar, dass dies eine Bohrstelle für den Sprengstoff gewesen war. Fasziniert betrachtete sie nun die Male des Steines genauer. Das gab dem Stein eine völlig neue Bedeutung – er war nicht nur die Halterung für eine Tafel die man zu Ehren von irgendwelchen Leuten aufgestellt hatte, sondern er war zugleich ein Zeugnis davon, wie gewaltige, von Menschen gemachte Kraft über die Natur gesiegt hatte.
„Es ist unglaublich wie lange dieser Stein schon hier steht, wenn er reden könnte hätte er sich viel zu erzählen.“ Der Fremde sah Lexia einen Augenblick durchdringend an und nickte schließlich: „Ja, das denke ich mir auch immer wieder. Nur im Gegensatz zu dir hatte ich ziemlich oft Gelegenheit darüber nachzudenken. Ich wohne nicht weit weg und gehe fast jede Nacht hier vorbei – meistens um über irgendwelche Dinge nachzudenken.“ Lässig lehnte sich der Mann a den Stein und strecke Lexia seine Hand entgegen: „Ich bin übrigens Frank, Frank Wasner. Es kommt selten vor, dass ich hie jemanden treffe mit dem ich reden kann. Die meisten bewundern den Stein nur einige Minuten und gehen dann wieder weg. Man kann an ihren Gesichtern sehen, dass sie nicht reden wollen.“ Lexia schüttelte Frank die lächelte: „Und in meinem Gesicht haben sie wohl gelesen, dass ich reden möchte, oder was?“ Vielsagend blickte Frank zuerst in das Gesicht des Mädchens, dann auf ihre Zigarette und schließlich auf die weiße, zitternde Hand, die die Zigarette kaum halten zu können schien. „Nein, ich habe eigentlich zuerst nicht dein Gesicht gesehen, sondern wie du so da standest – und deine zitternde Hand.“ Schnell versuchte Lexia ihre Hand mit der Zigarette hinter ihrem Rücken zu verbergen, aber Frank machte nur eine abfällige Geste: „Mach dir nichts draus. Das Zittern muss nicht unbedingt vom Rauchen kommen, das kann auch hundert andere Gründe haben – vielleicht ist es auch angeboren.“ Erleichtert dass Frank ihr nicht versuchte ins Gewissen zu reden nahm Lexia wieder einen Zug von ihrem Glimmstängel nur dass sie diesmal selber ein wenig erschrak als sie fühlte, wie schwer es war ihre Hand gerade zum Mund zu führen.
„Wie lange rauchst du eigentlich schon?“ Fragte Frank so vorsichtig wie es ihm möglich war. Erstaunt blickte Lexia zu ihm auf. Sie wollte ihren Mund öffnen und etwas sagen, ihm antworten wie lange sie schon rauchte, wann sie angefangen hatte, aber irgendwie ging es nicht – sie konnte sich einfach nicht mehr daran erinnern. „Es ist seltsam,“ sagte sie verblüfft, „ich weiß gar nicht mehr wann ich angefangen habe – es kommt mir so vor als wäre das die erste Schachtel in meinen Leben.“ Etwas Panik kam in ihrem Kopf auf. Sie konnte sich noch genau daran erinnern wie sie an diesem Morgen zum Kiosk gegangen war und wie selbstverständlich eine Schachtel einer bestimmten Marke verlangt hatte – wie sie die durchsichtige Schutzfolie entfernt hatte. Sie konnte sogar noch vor sich sehen, wie das silberne Schutzpapier zu Boden geflattert war. Noch bevor sie ihren ersten Zug genommen hatte, hatte ihre Hand schon begonnen zu Zittern wie die eines Alkoholkranken der nach einer Flasche billigem Fusel greift – so als würde sie endlich wieder einer lange unterdrückten Sucht frönen. Aber wann hatte sie angefangen?
Frank lächelte milde: „Das ist schon ok, ich weiß auch nicht mehr wann ich angefangen habe, es muss aber schon zwanzig Jahre her sein.“ Noch einmal musterte er das junge Mädchen – sie konnte auf keinen Fall älter als sechzehn Jahre sein. „Ihr werdet heute unglaublich schnell erwachsen,“ bemerkte er trocken.
„Ja,“ sagte Lexia, „dieser Satz hätte von meiner Mutter stammen können bevor ...“ Sie verstummte und verfiel in ein angestrengtes Schweige in dem sie Frank nicht zu stören wagte denn er konnte sehen wie es hinter ihrer Stirn zu arbeiten begann. Lexia wusste selbst nicht mehr was mit ihr los war – irgendetwas schien geschehen zu sein, schon vor einiger Zeit. Es fiel ihr so unglaublich schwer sich an bestimmte Dinge zu erinnern, manchmal kamen ihr Dinge in den Sinn, Gedanken, Worte, Bilder oder auch Meinungen, die sie einfach nicht zuordnen konnte, so als würde da für einen Moment jemand anderer für sie denken und sie dann mit den Fetzen, ohne Lösung, einfach im Regen stehen lassen. Es schien irgendwie keinen Sinn zu machen was sie gerade gesagt hatte. Diesen Satz von Frank hätte ihre Mutter nie gesagt, nicht in tausend Jahren – und was hatte dieses „bevor“ in ihren Gedanken zu suchen? Was war vorher gewesen? War ihre Mutter anders gewesen vor diesem mysteriösen „bevor“? Und wenn es so war, wieso konnte sie sich nicht mehr daran erinnern? Irgendwie schien ihr das ganze wie ein flüchtiger Traum – da waren nur Bruchstücke und je mehr sie sich auf die Einzelheiten zu konzentrieren versuchte, umso schneller schien ihr auch der letzte Rest der Erinnerung zu entgleiten.
Irgendwie gelang es ihr nach langen, schweigenden Minuten, endlich ihre Fassung wiederzugewinnen. „Ist es möglich, dass man einfach einen ganzen Abschnitt seines Lebens vergisst, so als wäre er nie geschehen?“ Die Frage wurde vom Wind davongetragen, doch Frank hatte sie gehört und er nickte: „ja, ich denke schon dass das geht. Ich war zum Beispiel einmal verheiratet, aber wenn man mich jetzt fragt was ich die ganzen zehn Jahre so gemacht habe, das schön und was interessant daran gewesen ist, dann stehe ich vor einem schwarzen Loch, ich kann mich einfach nicht mehr daran erinnern, es ist so als wäre das alles nie geschehen.“ Erbost funkelte Lexia ihr Gegenüber an: „Für dumm verkaufen kann ich mich selber auch.“ Sie wollte sich umdrehen und weggehen, doch Frank hielt sich mit einer Hand auf ihrer Schulter zurück: „Es tut mir leid, ich wollte das eigentlich gar nicht sagen aber es ist einfach über mich gekommen.“ Zögernd hielt Lexia inne. „Es tut mir wirklich leid,“ versicherte ihr Frank noch einmal. „Ich wollte dich wirklich nicht für dumm verkaufen.“ Lexia entspannte sich ein wenig und wandte sich wieder dem Steinblock zu.
„Warum bist du eigentlich hier,“ wechselte Frank schnell das Thema eher er das Mädchen wieder verärgern konnte. „Aus dem was du gesagt hast schließe ich, dass du von woanders kommst.“
In diesem Moment tat es Lexia schon wieder leid, dass sie so aus der haut gefahren war – aber irgendwie schienen ihr alle Dinge in letzter Zeit sehr nahe zu gehen – schon der kleinste Funke konnte ausreichen um sie zur Explosion zu bringen. Früher war das nicht so gewesen, da war sie sich ganz sicher. Etwas hatte sich verändert und es lag nicht nur daran, dass sie an einem anderen Ort war und alle bekannten Menschen hinter sich gelassen hatte.
„Ich bin hier weil ...“ begann Lexia doch sie vollendete ihren Satz nicht, denn in diesem Moment sah sie das kleine weiße Tier, das einige Meter von dem faszinierenden Stein und der Tafel entfernt auf einer kleinen Wiese stand und interessiert zu den beiden Menschen herüberschaute. Es war eine Katze – die schönste Katze die Lexia je gesehen hatte. Mit stolzen, funkelnden Augen und gespitzten Ohren sah der kleine Tiger zu ihnen herüber und Lexia glaube beinahe eine scharfe Intelligenz hinter dem würdevollen Blick zu erkennen, eine Intelligenz die transparent unter dem Fell zu schimmern schien. Elegant, geschmeidig wie es nur Katzen können, setzte sich das Tier langsam in Bewegung, wie ein Raubtier auf der Jagd. Frank folgte Lexia Blick und schließlich sah auch er die Katze, wie sie sich langsam näherte, ohne jede Hast und auch ohne jede Spur von Angst. Das lange, weiße Fell des Tiers wehte leicht im Wind und umgab es wie ein wallender Mantel.
„Ist das ihre Katze?“ Lexia Stimme war zu einem leisen Flüstern geworden so sehr hatte der Anblick der Katze sie in ihren Bann gezogen – beinahe wie eine Hypnose ausgelöst durch die anmutigen Bewegungen und das Spiel der zäher Muskeln unter dem dichten Fell. Trotzdem hatte Frank sie verstanden. Verneinend schüttelte er den Kopf und die Katze kam immer näher.
„Ich habe das Gefühl als würde die Katze sie kennen, Frank. Sie hat etwas seltsames an sich, wie sie mich so ansieht. Sind ihre Augen nicht unglaublich tief und klar?“
Frank nickte: „Ja, die Katze kennt mich. Ich bin ihr vor einiger Zeit begegnet. Aber ich würde nicht sagen, dass die Katze mir gehört – ein solches Tier kann niemals irgendjemandem gehören. Sie gehört nur sich selbst.“ Mit etwas dunklerem unterton fuhr er fort: „Wenn hier überhaupt irgendjemand in Besitz ist, dann bin ich es.“
Schließlich blieb die Katze vor den beiden stehen, nur eine Armlänge von Lexia und Frank entfernt. Das Tier bildete eine starken Kontrast zu dem grauen Granitblock, wie es so strahlend weiß vor ihnen hockte und sei unverwandt anblickte. Als Lexia immer tiefer im Blick der Katze versank, begann sie sich plötzlich wieder an einen Traum zu erinnern. „Frank,“ fragte Lexia vorsichtig, um den Bann nicht zu brechen, den  die Katze um sie beide gelegt hatte, „glauben sie an die Macht der Träume?“ Frank nickte ohne zu zögern: „Ich habe schon zuviel erlebt, als dass ich nicht an die Macht der Träume glauben würde. Das meiste von dem, würdest du aber wahrscheinlich nicht mal im Traum glauben.“ Lexia ignorierte den Unterton den sie nicht definieren konnte, der aber trotzdem fest in Franks Stimme mitschwang sondern beschloss statt dessen Frank von ihrem Traum zu erzählen. „Ich möchte ihnen von einem Traum erzählen, den ich vor einiger zeit gehabt habe. Bis jetzt war der Traum irgendwo in meinem Unterbewusstsein vergraben, aber als ich diese Katze sah, ist er wieder heraufgekommen und jetzt steht er vor mir, als wäre ich gerade erst daraus aufgewacht.“ Ohne etwas zu sagen hörte Frank ihr zu, er wusste, dass Katzen solche Dinge bewirken konnten, vor allem diese eine hier. „In diesem speziellen Traum stand ich in einer dunklen Gasse in irgendeiner Stadt. Aber es war keine natürliche Dunkelheit, so wie sie über die Welt hereinbricht wenn die Sonne untergeht. Es war vielmehr so, als hätte sich ein Schatten über diesen Ort gelegt, ein dunkler, rauchiger Schatten wie ein Totenschleier. Neben mir waren alte Wände aus roten Backsteinen, zumindest glaube ich, dass die Backsteine rot waren, es war zu dunkel um irgendeine Farbe genau zu erkennen.“
Frank nickte – nachts waren nicht nur alle Katzen grau.
„Hinter mir und vor mir ging die Gasse in die Dunkelheit weiter und ich konnte nicht anders als ein Bein vor das andere zu setzen, immer weiter in die Dunkelheit hinein und dem entgegen, was dort lauern mochte. Nach langer Zeit – vielleicht waren es Tage in denen die Sonne nie am Himmel erschien, erreichte ich schließlich das Ende der Gasse und ich stand auf einem weiten Platz. Auch dort herrschte diese seltsame, schwere Dunkelheit – dieser Schatten. Der Platz schien sehr weitläufig zu sein, der Boden war mit einem großen Mosaik verziert, das man von dort aus gar nicht genau erkennen konnte. Ich glaube man musste wohl auf einem der Häuser stehen um das gesamte Bild zu erkennen. In der Mitte des Platzes stand ein großer Springbrunnen, ein wundervolles Meisterwerk wie man es normalerweise vor Parlamenten sehen kann. Das bücken des Brunnens hatte mindestens zwanzig Meter Durchmesser und war mit Wasser gefüllt. In der Mitte des Beckens stand eine Statue, so groß, dass sie weit in den Himmel ragte. Die Statue sollte wohl einen Mann mit dem Kopf eines Fisches darstellen. Der Mund des Fischkopfes war weit geöffnet und ich bin mir sicher, dass normalerweise Wasser daraus hervorgeschossen kam – aber in diesem Moment war alles still und es floss auch kein Wasser. Langsam ging ich auf die Mitte des Platzes zu, zu dem Brunnen. Als ich mich umsah kam es mir vor, als wäre dies das Zentrum einer Fußgängerzone, denn am Rand des Platzes waren kleine Restaurants, Bars und Schaufester. Vor einigen der Gebäuden standen sogar diese Sommerstühle wie man sie manchmal vor Cafes sehen kann wen die warme Jahreszeit beginnt. Aber da waren keine Menschen und wenn ich ein Schaufenster genauer ansah, konnte ich Staub auf dem Glas sehen und es wirkte verschmiert – so als wäre dieser Ort schon vor langer Zeit verlassen worden. Die ganze zeit über hatte ich das Gefühl völlig alleine zu sein. Erst als ich immer näher an den Brunnen herankam, fühlte ich so etwas wie einen kalten hauch in meinem Nacken, dieses Gefühl das man manchmal hat wenn man aus dem Hinterhalt beobachtet wird. Nach einiger Zeit stand ich dann direkt vor dem Brunnen und ich konnte das Wasser vor mir sehen – es war kristallklar und funkelte, trotz der Dunkelheit. Noch nie in meinem ganzen Leben habe ich so klares und sauberes Wasser gesehen. Selbst das Becken war völlig sauber – klein Schlamm, kein Moos, kein Dreck. Normalerweise schwimmen tote Fliegen und kleine Papierfezen in solchen öffentlichen Brunnen aber hier schien es, als wäre es gerade erst gereinigt worden. Aber trotzdem war da etwas, das nicht in den Brunnen gehörte – oder eigentlich mehrere Dinge: Am Grund des Brunnens lagen kleine, silberne Münzen und sie funkelten zusammen mit dem Wasser.“ Entschuldigend zuckte Lexia mit ihren Schultern ehe sie fortfuhr: „manchmal hat man in Träumen die Dinge nicht ganz unter Kontrolle und so ging es auch mir. Eigentlich wollte ich es gar nicht tun, aber noch bevor ich mich wehren konnte, war ich im Brunnen und tauchte zu den Münzen hinunter. Ich kann mich genau erinnern, wie unangenehm kalt das Wasser war, wie es mir die Kluft aus den Lungen zu pressen suchte und wie mein Herz von der plötzlichen Kälte unregelmäßig zu schlagen begann. Die Kälte des Wassers begann an meinem Kopf zu saugen und irgendwie hatte ich das Gefühl es würde meine Erinnerungen Stück für Stück einfrieren und dann zerklirren lassen – wie eine Rose die man in flüssigen Stickstoff taucht und dann auf den Boden wirft.“
Frank spürte, wie sie jedes einzelne seiner Nackenhaare aufstellte, ein Gefühl wie er es schon lange nicht mehr erlebt hatte. „Das Wasser des Flusses Lethe,“ sagte Frank halblaut vor sich hin. „Was haben sie gesagt? Verlangte Lexia zu wissen, doch Frank winkte ab: „Nur eine alte griechische Sage. Erzähl bitte weiter.“
Lexia musste erst ihre Gedanken sammeln, ehe sie weitererzählen konnte. „Aber dann erreichte ich den Grund des Brunnens. Mit einer Hand nah mich die Münzen auf und mit der anderen stieß ich mich ab um wieder an die Oberfläche zu kommen. Es schien eine Ewigkeit zu dauern, bis ich endlich mit dem Kopf die Wasseroberfläche durchstieß und mit beiden Händen den Rand des Beckens zu fassen bekam. Ich hätte nie gedacht, dass dieser Brunnen so tief sein konnte – aber manchmal täuscht klares Wasser sehr. Als ich dann über den Rand des Beckens hinaussah, konnte ich sie sehen – es waren hunderte von Katzen – sie schienen von überall zu kommen und sie waren alle so dunkle wie die Nacht – grau und eine wie die andere funkelten sie mich böse an. Ich konnte ihre Wut fühlen, wie sie in der Luft vibrierte denn ich hatte etwas Verbotenes getan, etwas, was gegen ein ungeschriebenes Gesetz verstieß. Nass und völlig unterkühlt stieg ich aus dem Becken – eine andere Wahl ließ mir der Traum nicht und so stand ich dann tropfend vor den Katzen. Dann wurde alles plötzlich sehr unklar und das nächste was ich weiß war, dass die Katzen weg waren und sich ein leuchtend blaues Tor vor mir öffnete und da war diese Katze. Sie war strahlend weiß, nicht grau wie die anderen. Es schien so, als würde auf genau diese Katze die Sonne scheinen, die Sonne die man an diesem Ort sonst nie zu sehen bekam und ich konnte die Stimme der Katze in meinem Kopf hören. Sie forderte mich auf ihr zu folgen, durch das Tor zu gehen und ihr zu folgen. Diese Worte hallten immer und immer wieder in meinem Kopf nach. Dann bin ich aufgewacht und es war zu Ende.“ Alexcis zuckte mit den Schultern: „Mehr weiß ich leider nicht, das ist alles. Aber die Katze in dem Traum sah genauso aus wie diese Katze.“ Lexia deutete auf das Tier, das immer noch majestätisch vor ihnen hockte und jedem Wort der Erzählung scheinbar interessiert beigewohnt hatte.
Frank atmete tief durch und ließ die mittlerweile heruntergebrannte Zigarette auf den geteerten Weg fallen. Er ließ Lexia nicht aus den Augen während er eine weitere Zigarette aus dem grünen Päckchen holte. Auch Lexia steckte sich eine neue Zigarette an und sog mit zitternden Fingern den Rauch tief in ihre Lungen ein.
„Weißt du,“ sagte Franke, „ich denke mich verwundert gar nichts mehr, nicht nach all den seltsamen Vorfällen durch die ich durchmusste. Bei mir hat alles vor einiger Zeit mit eben dieser Katze angefangen.“ Er deutete auf die weiße Katze die ihm zuzunicken schien. „Als ich ihr begegnete hat alles angefangen und jetzt stehe ich hier, mit dir und wir reden über einen Traum der unter normalen Umständen eigentlich völlig absurd und wäre und keinen weiteren Gedanken verschwenden müsste, aber,“ er nahm einen tiefen Zug von der Zigarette, „dies sind keine normalen Umstände denn ich kenne den Ort von dem du geträumt hast und ich bin mir ziemlich sicher, dass das mehr als nur ein Traum war.“ Lexia sah den Mann überrascht an. Ganz genau musterte seine Züge, versuchte dort Falschheit, Trug oder etwas anderes Dunkles zu erkennen aber alles was sie sah war das Gesicht eines einen offenen und ehrlichen Mannes der ihr die Wahrheit gesagt hatte.
„Woher kennen sie diesen Ort?“ Wollte Lexia sofort wissen. Frank seufzte so, als hätte er eigentlich lieber nicht darüber gesprochen aber er wusste, dass es nicht anders ging: „Der Ort von dem du geträumt hast nennt man die dunkle Stadt. Eigentlich wissen nur sehr wenige Menschen, dass es diesen Ort überhaupt gibt und ich kann dir versichern, dass das einen guten Grund hat. Die dunkle Stadt ist ein gefährlicher Ort und der gefährlichste Platz ist der alte Springbrunnen bei dem du gewesen bist. Es ist ein Wunder, dass du lebend von dort entkommen bist aber vielleicht liegt es auch daran, dass du nur im Traum dort warst.“
„Waren sie auch schon dort?“ Wollte Lexia schüchtern wissen. Etwas unbehaglich zog Frank seinen Mantel noch enger um seinen Körper, so dass er beinahe schon wie eine Mumie wirkte die man in schwarze Tücher eingewickelt hatte. „ja,“ bestätige Frank Lexia Vermutung, „ich war schon einmal in dieser Stadt aber nur ganz kurz und ich kann dir versichern, dass ich es mein ganzes Leben lang nicht mehr vergessen werde. Es war die Katze die mich damals von dort gerettet hat. Wie dich hat sie auch mich durch ein blaues Portal gelotst und vor einem schlimmen Ende bewahrt. Dieser Ort ist sehr gefährlich und ich weiß heute noch nicht wie ich so verrückt sein konnte mich in diese Gefahr zu begeben.“ Nachdrücklich wandte Frank sich dem Mädchen zu und sah ihr tief und ernst in die Augen: „ich möchte ehrlich zu Dir sein. Ich denke nicht, dass es ein Zufall war, dass wir uns hier getroffen haben – etwas wollte, dass wir uns begegnen, unsere Wege mussten sich kreuzen.“ Beide sahen unwillkürlich zu der Katze hinüber, die sich jetzt unschuldig die Pfoten mit der rauen Zunge reinigte. „Ja, wahrscheinlich war es die Katze die das so wolle,“ sprach Frank aus, was sie beide in diesem Augenblick dachten. „Diese Katze ist wesentlich mehr als sie zu sein scheint und sie bestimmt meinen Weg schon seit einiger Zeit auf die merkwürdigsten Arten. Ich denke in diesem Fall müssen wir ihr einfach vertrauen und uns gehen lassen.“
„Wie meinen sie das,“ fragte Lexia vorsichtig. Frank faltete seine Hände: „ich denke du solltest erst mal mit mir mitkommen. Es gibt da jemanden den ich dir gerne vorstellen möchte. Im Moment hast du sicher keine Ahnung was da alles dahinter steckt aber es ist wesentlich größer als alles, was du jemals zuvor erlebt hast – und wir sind nicht alleine. Es gibt Menschen die Verfolgen mich und alle mit denen ich Kontakt habe oder hatte. Ich befürchte, dass auch du jetzt in diese Sache hineingeraten bist.“ Unentschlossen sah sich Lexia um. Sie waren alleine, nirgendwo konnte man heimliche Verfolger sehen, da stand auch nirgends ein geparkter Lieferwagen wie man es immer in Agentenfilmen sah – die Welt wirkte genauso verschlafen und friedlich wie in dem Moment als sie den Stein entdeckt hatte. Frank schien ihre Gedanken lesen zu können, denn er legte ihr beruhigend seine schwerer hand auf die Schulter: „Ich denke nicht, dass hier schon irgendjemand auf mich lauert – im Moment bin ich ihnen immer einen Schritt voraus, manchmal sogar zwei, aber irgendwann finden sie die Fährte immer und ich bin mir sicher, dass sie in ein oder zwei Tagen auch hier sein werden um zu sehen, was ich wollte. Doch dann werde ich hoffentlich schon lange wieder woanders sein. Alles was ich gerne von dir hätte wäre, dass du mit mir kommst und nur fünf Minuten einer Freundin zuhörst. Sie kennst sich viel besser aus als ich, sie war es auch, zu der die Katze zuerst kam. Ich bin mir sicher, dass sie dir helfen kann was deinen Traum betrifft. Wir müssen herausfinden, warum wir uns hier getroffen haben, warum die Katze wollte, dass wir miteinander reden.“ Lexia sah zu der Katze hinüber und diesmal sah ihr das Tier genau in die Augen, bis tief auf den Grund. Es war als würde sich das bild der Katze, wie sie on der dunklen Stadt vor dem blauen Tor stand und das Bild, wie die Katze jetzt vor ihr saß und sie anblickte, langsam überlagern – sie waren völlig identisch. Auch die letzten Zweifel wurden jetzt weggewaschen und Lexia war sich nun ganz sicher, dass der Traum etwas zu bedeuten gehabt hatte. Vielleicht hatte er sogar mit den seltsamen Ereignissen der letzten Monate zu tun – möglicherweise würde sie jetzt sogar die Antwort darauf finden, warum ihr alles so fremd erschien und sie sich an verschiedene Dinge einfach nicht mehr erinnern konnte.
„Also gut,“ sagte Lexia nickend, „ich werde mit ihrer Freundin reden und vielleicht kann sie mir wirklich auf ein paar Fragen Antworten geben. Aber ich werde nicht sofort mit ihnen mitkommen, selbst wenn sie das wahrscheinlich wollen. Ich bin aus einem bestimmten Grund in dieses Dorf gekommen, es gibt da noch etwas das ich erledigen muss, jemanden den ich treffen muss.“ Frank schürzte seine Lippen nachdenklich und Lexia konnte sehen, dass ihm nicht gefiel was er hörte, aber schließlich nickte er widerstrebend: „Also gut. Ich werde dir meine Adresse geben, aber ich werde nur noch heute und morgen hier sein, danach bin ich wieder fort und wir werden keine zweite Gelegenheit haben uns zu unterhalten.“ Frank reichte dem Mädchen eine kleine weiße Visitenkarte mit einer Adresse darauf. Die Karte war nicht professionell gemacht, sie sah eher so aus wie aus einem Automaten in einem Kaufhaus. Wortlos nahm sie die Karte entgegen, als ihr plötzlich etwas einfiel: „Vielleicht könnten sie mir noch helfen bevor ich gehe. Ich sollte zu einem bestimmten Haus in der Stadt, es heißt Millennium Club. Dort treffe ich mich mit jemandem. Wenn ich ihnen die Adresse geben könnten sie mir vielleicht sagen wie ich dorthin komme.“ Lexia befürchtete, dass Frank umkippen würde, als plötzlich jede Farbe aus seinem Gesicht wich. Mit großen Augen sah er Lexia an und rang um Beherrschung. „Der Millennium Club?“ Stotterte er. Lexia nickte. „Ja, der Millennium Club. Stimmt etwas nicht damit?“ Die Katze kam ein wenig näher zu den beiden und Lexia glaube auch in ihren Augen ein beunruhigtes Funkeln zu sehen.
„Was ist denn jetzt mit diesem Club?“ wollte Lexia von Frank ungeduldig wissen. Mit größter Mühe nahm Frank einen Zug von seiner Zigarette: „Der Millennium Club ist kein Haus in dieser Stadt, es ist eigentlich nicht einmal mit irgendetwas vergleichbar was man landläufig als Club bezeichnet. Dort drinnen gibt es weder bunte Schirmchendrinks noch Musik oder tanzende Leute. Der Club ist mehr eine Idee, eine Institution hinter einer Institution. Der Club besteht aus einigen älteren Herren die gerne eine Zigarre rauchen und davon träumen über die geschickte der Menschen zu herrschen. Das gefährliche daran ist, dass diese Männer in direktem Kontakt mit denen stehen die mich, die Katze und meine Freundin verfolgen. Sobald der Club auftaucht sind auch wir in Gefahr.“ Frank fluchte leise in sich hinein. Eigentlich hatte er erwartet noch mindestens eine Woche sicher zu sein in diesem Dorf aber scheinbar waren die Verfolger dichter an seinen Fersen als er bisher vermutet hatte. Lexia lächelte, als die Katze um ihre Beine schmeichelte – zumindest in diesem Punkt schien sie nicht anders zu sein als alle normalen Stubentiger die ihr bisher begegnet waren.

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