Samstag, 2. April 2011

Heimat oder Ein Spaziergang auf den Straßen der Erinnerung

Meine Gedanken sind wirr, vielleicht liegt es daran, dass mein Leben irgendwie wirr ist. Keine Ahnung. Vor zehn Jahren dachte ich, dass ich es noch in den Griff bekommen würde, bis heute wäre alles gut, geregelt und einfach. Nichts da. Alles gleich wirr. Zumindest habe ich den Versuch unternommen etwas klarer zu sehe. Ich war nämlich spazieren. Diejenigen von euch die mich etwas besser kennen werden jetzt vielleicht die Stirn ein wenig runzeln und nochmals den vorherigen Satz lesen. Natürlich, klar, das versteh ich. Also dass soll jetzt nicht heißen, dass ich mich nie bewege, eigentlich sogar so ziemlich das Gegenteil ist der Fall. Nimmt man mal meine Arbeit her so bewege ich mich sogar ziemlich viel, zum Beispiel gehe ich die Strecke von meiner Wohnung zur Arbeit und zurück jeden Tag zu Fuß, die meisten die ich kenne würden bei vergleichbaren Entfernungen den Bus nehmen. Es gibt mir irgendwie ein gutes Gefühl die Strecke auf die altmodische Art und Weise zurück zulegen. Aber spazieren gehe ich normalerweise nicht, ich mag es nicht ohne Ziel einfach loszumarschieren nur um des Marschierens will. Weiß jetzt eigentlich gar nicht genau wieso. Gestern habe ich es trotzdem getan weil ich den Anblick des Monitors, der Tastatur, der Wände um mich herum nicht mehr ertragen konnte. Was als Flucht begann wurde zu einem Marsch in meine eigene Vergangenheit, eine Welt die ich glaubte längt hinter mir zurückgelassen zu haben, verloren an den Ufern der Zeit.
Meine Reise beginnt auf der alten Straße die ich hinterging, vorbei an der seltsamen Villa die ich als Kind immer so faszinierend fand. Sie steht auf einem großen Grundstück, auf einer Wiese mit knorrigen Bäumen die dahinter aufragen als wäre es ihre ureigenste Aufgabe den richtigen Hintergrund für das Herrenhaus zu bilden. Das schwere Metall des altmodischen, verschnörkelten Zains, welcher das Grundstück von dem Gehweg und der Straße trennt, ruht auf einem Fundament aus Beton, nicht einfach in die Erde gestoßen. Die Stangen laufen oben spitz zu, einer jener Zäune auf denen sich ein unachtsames Kind aufspießen kann. Uns hat man damals immer davor gewarnt. Der Zaun ist rostig und war es wahrscheinlich immer schon, außerdem verbogen, verdreht, die Erde selbst scheint sich mit dem Fundament bewegt zu haben. Schon komisch, dabei hat man immer das Gefühl die Erde stünde still. Hinter den Tor führt ein Kiesweg zur Villa, er gabelt sich einige Meter nach der Einfahrt, führt links und rechts an einem großen, tellerförmigen Brunnen vorbei und vereinigt sich wieder vor dem Haus. Solange ich mich erinnern kann hat der Brunnen nicht funktioniert, er war schon immer so wie jetzt, tot, mit Moos bewachsen, still. Floß hier jemals Wasser? Man müsste einen der alten Dorfbewohner fragen. Die Villa selbst hat zwei Flügel, links und rechts des breiten Mittelteils, so wie s Flügel meistens sind. In meiner Kindheit war es eine Geistervilla, teilweise verfallen, bedrohlich mit Dunkelheit die aus toten Fenstern quoll wie Nebel. Der Garten war wild gewesen, keine Wiese wie heute. Ein Haus das im Stande war die Fantasie eines Kindes zu beflügeln und unter uns Jungen hatte es immer wieder Geschichten darüber gegeben. Wie jene über den letzten Besitzer, der nie aus dem Krieg heimgekehrt war und dessen ruheloser Geist seinen leer stehenden Besitz jetzt in der Nacht heimsuchte. Das waren alles wohl nur Märchen und wahrscheinlich bin ich der letzte der sich daran erinnert denn von dem alten Haus ist nicht mehr viel da. Man hat es renoviert, lackiert, herausgeputzt. Die Fensterläden strahlen in der Sonne, die Fassade leichtet hell. Nur der Brunnen ist wie eh und je, eine Erinnerung an einen längst vergangenen Sommer als ich auf Ästen schwang. Langsame Tage. Und meine Reise geht weiter.
So ging mein Spaziergang weiter, an dem Haus vorbei welches zu einer Metapher für meine alte Heimat werden sollte. Wenn ich mich umsehe ist so vieles anders geworden. Manches nur ein bisschen, anderes völlig. Der Wohnblock in dem die erste Freundin meines damals besten Freundes gewohnt hat ist noch da. In der Erinnerung ist es wieder jene Nacht in der wir dort aus dem Fenster sprangen, in Panik weil es an der Türe geklingelt hatte und wir glaubten ihre Eltern wären früher aus dem Urlaub zurück. Kinder eben, dumm aber in den eigenen Köpfen so furchtbar erwachsen. Sie war so alt wie ich, wahrscheinlich wohnt sie nicht mehr dort. Hat sie jetzt eine Familie? Ist sie erwachsen geworden? Ich werde es nie erfahren. Komischerweise macht mich das traurig. Damit hätte ich nicht gerechnet. Das ist die Gefahr wenn man die Straße der Erinnerung hinunterschlendert, die Memory Lane, man kann ganz schnell sentimental werden. Bin ich sonst nie. Glaube ich. Also geht es weiter.
Hier bin ich aufgewachsen, jeder Meter Boden hat Bedeutung, ist vollgesaugt mit Erinnerungen. Wie ich hier mit meinen Freunden fuhr, auf Fährrädern. Wild, stolz und frei. Es wird nie mehr wieder so sein und auch das macht mich traurig. Draußen, an der Hauptstraße, bei den Brücken über die Flüsse hat sich am meisten verändert. Der Ort in meiner Erinnerung existiert nicht mehr. Wenn ich sterbe, ist er dann ganz fort? Ein komischer Gedanke.
Ich gehe den Damm hinunter undbegegne den Radfahrern mit ihren angestrengten Gesichter. Die tiefstehende Sonne scheint mir ins Gesicht, warm, und ich lächle die Fremden an, im Moment ist es mir egal ob sie das erwidern oder nicht, ich tue das weil ich mich danach fühle. Die paare sind hingegen eine ganz andere Geschichte. Hier auf dem Damm sind sie fast so zahlreich wie die Familien auf ihren Sonntagsspaziergängen. Ich bin allein, die paare eine Erinnerung wie es sein könnte. Sie hält seine Hand, lacht. Ein hübsches Mädchen mit langen Haaren und Sommersprossen, eingepackt in eine Winterjacke. Die Sonne mag vielleicht warm sein aber die Luft und der Wind sind es nicht. Lächelnd läuft sie um ihn herum, stellt sich hinter ihn und schlingt ihre Arme um seine Taille, hält ihn fest. Ihr Lachen ist anstecken, er strahlt. Da ist nichts Falsches, nichts Gespieltes. Nur Liebe. Ich komme mir seltsam vor wie ich die beiden so beobachte, senke den Blick wenn sie herschauen. Was denke sie wohl von mir? Aber es ist schön zu wissen, dass es so etwas gibt. Für einen Moment sind wir auf gleicher Höhe, eine flüchtige Sekunde, dann lasse ich die beide hinter mir zurück.
Da ist diese Holzbrücke, überdacht, eine Konstruktion wie sie lange schon nicht mehr in Gebrauch ist. Als Kind hatte ich Angst davor. Schon will ich daran vorbeigehen, sie achtlos links liegen lassen. Doch dann schießt mir ein Gedanke: Was ist, wenn ich nie mehr hier vorbeikomme? Mein letzter Besuch liegt Jahre zurück. Viele Jahre. Werde ich mir dann eines Tages Vorwürfe machen weil ich mir die Chance noch einmal über diese Brücke zu überqueren entgehen habe lassen? Ich entscheide mich es zu tun. Was habe ich schon zu verlieren? Und was Zeit betrifft so gibt es sie im Überfluss. Die Nachricht auf die ich warte kommt ohnehin nicht. Also gehe ich. Vorher lasse ich aber noch die beiden Radfahrer passieren, die Brücke ist eng. Das Holz knarzt als ich meinen Fuß darauf setze, es ist dunkel, fast schwarz und alt. Sie Brücke, war schon alt als ich noch jung war. Es drängt sie mir die Frage auf ob man sie in der Zwischenzeit vielleicht erneuert hat. Ich schaue genauer hin. Alles wirkt alt, auch auf den zweiten Blick. Generationen haben in das schwarze Holz ihre Nachrichten und Botschaften geritzt, Zeitkapseln allesamt. Nicht in, natürlich, so war ich nie. Kein Baum auf der ganzen Welt trägt meine Initialen. Wenn ich nach unten sehe kann ich das graue. Lehmige Wasser zwischen den Planken sehen. Das hat mir als Kind immer große Angst gemacht, diese Erinnerung daran wie knapp unter meinen Füßen die Naturgewalt des Flusses lauert, die stille Geduld es Wassers, immer wartend, dass die zerbrechliche Konstruktion von Menschenhand ihm gibt es ihm zusteht. Komischer Gedanke, schon wieder, aber es ist auch ein komischer Tag. Ich überquere die Brücke zweimal. Natürlich hätte ich auch auf der anderen Seite weitergehen können, auch da gibt es viele Erinnerungen. Dieser Ort ist einfach voll davon. Aber eigentlich will ich zum See, weiter den Damm entlang.
Familien mit Hunden kommen mir entgegen und ich finde es schön sie zu beobachten. Hunde scheinen immer glücklich zu sein, zumindest hier draußen. Die Gegend hat etwas von einem Auwald. Der Boden ist feucht, die Bäume die überall stehen sind mit dichten, herabhängenden Moosbärten verziert, eine alte Welt in der man wunderbar Stöckchen werfen kann. Diese Welt hat einen charakteristischen Duft. Nach altem Holz, Baumpilzen und Wasser. Man riecht den See und ich werde von Kindheitserinnerungen überflutet. Nein, eigentlich sind es nicht wirklich Erinnerungen mit Bildern sondern mehr Gefühle. Der Geruch des Wassers, die Ahnung von Seetang und verrottendem Holz bringt verschüttete Emotionen ans Tageslicht, ich erinnere mich wieder daran wie es sich angefühlt hat als Kind mit meinen Vater hier zu spazieren, wie es war als Teenager mit Freunden am Wasser zu sitzen, die Sonne zu beobachten und Bier zu trinke, als junger Erwachsener mit einer Freundin auf dem großen Stein zu stehen und wichtige Gespräche zu führen. Große Steine gibt es hier allerdings viele.
Ihr müsst wissen, vor 100 Jahren wäre ich an dieser Stelle mitten im Wasser getrieben, nichts auch nur in der Nähe um meine Füße darauf zu stellen. Das alles hier, diese Auenlandschaft ist eigentlich eine riesige Auflandungsfläche, künstlich geschaffen als der Fluss vor so langen Jahren reguliert worden war um die zahlreichen, zyklisch auftretenden Überschwemmungen zu stoppen. Die großen, schweren Steinbrocken begrenzen das aufgeschüttete Land, sie sind das Fundament auf dem diese Welt ruht. Man war wohl sehr stolz auf diese Leistung, die Zähmung des Flusses aber andererseits kann man die Natur nicht zähmen, nicht manipulieren ohne dafür einen Preis zu zahlen. Der Preis war in diesem Fall die zunehmende Verlandung des Sees. Der ursprüngliche Fluss zog weiter Linien, trief seine Wasser mit gemächlicher Geschwindigkeit voran, alt und irgendwie weise. Von solchen Flüssen hat der Mensch das Leben gelernt. Der regulierte Verlauf ist schnurgerade, reißend und kalt. Was das für die heutige zeit bedeutet und was wir davon noch lernen können das will ich jetzt gar nicht wissen. Aber zum Preis. Der reißende Fluss trägt sehr viel mehr Sand, Schlamm und Steine mit sich als der See verkraften kann, er wird langsam aber stetig aufgefüllt. Deshalb sind die Bagger da draußen, auf großen Schiffen. Sie kämpfen Tag und Nacht gegen die Folgen des menschlichen Eingriffes an. Aber im Grunde zögern sie das Unvermeidliche nur hinaus. Die Dämme links und rechts des regulierten Flusses ziehen schon weit in den See hinaus, alles Aushub, ein versucht das transportiere Material in eine Richtung zu lenken. In 200 Jahren wird es den See so vielleicht nicht mehr geben. Irgendwie hat alles Bedeutung auf meinen Weg.
Und ich komme zu dem großen Stein auf dem ich mit jenem Mädchen stand. Er ist noch da, unveränderlich, auch wenn das Wasser zu hoch ist als dass ich auf ihn steigen hätte können. Sie ist nicht mehr da. Wir waren damals gute Freunde, sie und ich und doch hat der Kontakt nicht gehalten. Es lag wohl an mir. Fragt einfach mal diesen Ort. Er hat mich auch lange nicht mehr gesehen. So bin ich, ich lasse Dinge zurück nur dass ich bisher nie zurückgeblickt habe, nicht lange genug um zu bereuen. Ich glaube hier und heute bin ich in diesem Alter: Noch jung genug um nach vorne zu blicken und zu hoffen aber schon alt genug um einiges verloren und vieles bereut zu haben.  Vielleict ist das auch gut so, denn man lernd die Dinge mehr zu schätzen und darum zu kämpfen wenn man Reue und Verlust gekostet hat. Vielleicht macht es mich ja stärker – wer weiß? Im Weggehend denke ich nochmal an sie. Was wohl aus ihr geworden ist? Auch das wird wohl ein Geheimnis bleiben das mir zu lüften nicht gegeben ist. Ich wünsche ihr, dass es ihr gut geht und das Leben auf sie herab lächelt. Ihr haltet das für etwas zu melodramatisch? Ist mir jetzt eigentlich egal. Bin ich halt verdammt in alle Ewigkeit.
Hier kommt der Wendepunkt einer Reise. Ich kann mich entscheiden auf dem Damm zu bleiben. An seinem Ende würde ich weit über den See blicken und den Wind in meinem Haar spüre können oder ich nehme die Abzweigung zurück auf den Weg nach Hause. Ich betrachte mich und stelle überrascht fest, dass ich müde bin. Der Damm wird wohl noch auf mich warten müssen. Also gehe ich die Abzweigung hinunter, sie führt mich zurück unter weit auslandenden Bäumen hindurch, sie bilden eine Art Kuppelgang über mir, eine Kathedrale der Natur, eine Religion die keinen begünstig und die nichts verspricht als die eine simple Wahrheit: Alles muss vergehen und nichts geht verloren. Menschen kommen mir entgegen, ich kenne keinen einzigen davon. Wahrscheinlich sind wir alle hier aufgewachsen und doch sind sie mir fremd. Vielleicht weil ich früh gegangen bin? Nur die ersten vier Jahre meiner Schulzeit habe ich hier im Ort verbracht. Die Freunde von damals sind wohl längst weg, verheiratet, geschieden, was auch immer. Wir würden uns wohl auf der Straße nicht mehr erkennen. Neue Freunde kamen und gingen. Ich war immer woanders, 4 Jahre hier 4 Jahre dort. Aber aufgewachsen bin ich doch hier. Egal wo ich war, egal mit wem, ich hab‘ sie trotzdem immer irgendwie hierher gebracht und ihnen diese, meine Welt gezeigt. Das überrascht und erschreckt mich. Hatte ich nicht geglaubt dem entwachsen zu sein? Den Orten und Menschen hier? Aber es ist alles noch da, die Erinnerungen, die Gefühle, all die Jahre die ich mir eingeredet hatte dies würde alles nicht bedeuten und dann wirft ein einziger Spaziergang das Bild um.
Man kann den Junge aus der Heimat nehmen aber niemals die Heimat aus dem Jungen. Ich mag diese Straßen irgendwie, sogar die Holzbrücke und den Stein. Zu viele erste male sind hier passiert, das kann man nicht ersetzen. Selbst wenn ich in New York die Upper Eastside entlanggehe wird dies nur ein Spaziergang auf irgendeiner Straße sein. Hier, genau hier, unter den knorrigen Bäumen mit dem Geruch von Seetang und verrottendem Holz in meiner Nase sind meine Erinnerungen verwurzelt. Ich vermag nicht zu sagen ob das jetzt ein Sieg oder die ultimative Neiderlage ist … und für wen. Und die tieferliegende Wahrheit ist – gerade weil dieser Ort die Heimat ist, weil so viele Erinnerungen darin konserviert sind, muss ich weg, immer wieder, immer länger. Nur da draußen, wo die Welt neu ist, kann es nach vorne gehen denn das dumme an all den Erinnerungen ist, dass sie wie eine Eisenkugel an dir hängen. Aber das kommt wahrscheinlich auf darauf an was für ein Leben man führen möchte. Ich habe meinen Weg gewählt.
Ich komme zu Hause an, bin müde. Immer noch keine Nachricht. Sie wird auch nicht kommen. Dafür hat das Universum angeklopft und mir eine Nachricht hinterlassen. Das muss doch auch was wert sein, nicht?

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